„Mobil[e]_migration“ von Daniel Aschwanden und Conny Zenk

„Mobil[e]_migration“ von Daniel Aschwanden und Conny Zenk

Chronotopie und prototype exchange

„Scores N°11 / Archives to Come“ - Die Archivierung als körperliche Praxis im Tanzquartier Wien

Das Wochenendprogramm rund um die neue Ausgabe der Zeitschrift „Scores“ des Tanzquartiers bot ein eher durchwachsenes Programm.

Wien, 27/04/2016

Im Zeitalter der digitalen Technologien ist das Sammeln und Duplizieren für ein zukünftiges Wiedersehen und Wiedererfahren zu einer realisierbaren Fähigkeit für jedes private Individuum geworden. Gerade dann stellt sich jedoch die Frage nach der Instrumentalisierung solcher Prozesse für die ephemeren und auratischen Vorgänge einer Aufführungspraxis wie der des Tanzes. Eine solche Annäherung an den Diskurs und die Praxis der Archivierung vollzog sich am vergangenen Wochenende am Tanzquartier Wien unter dem Titel „Scores N°11 / Archives to Come“. Dies vor allem, da das Tanzquartier mit Einweihung seiner Online Mediathek den Weg der Archivierung von Tanz und Performance sehr eindeutig beschreitet.

Basis der diskursiven Auseinandersetzung boten hierbei täglich die Vorträge von TanzwissenschaftlerInnen und KuratorInnen wie Scott deLahunta, Christina Thurner, Lia Perjovschi und Olaf Nicolai. deLahunta, derzeitiger Co-Leiter des Motion Bank Institutes Frankfurt, stellte mit einem leider viel zu kurzlebigen Überblick die Annäherung von technischer Datenerfassung und choreografischer Praxis inklusive seiner prominentesten Zusammenarbeit mit der Forsythe Company vor. Lia Perjovschi gab einen Einblick in ihre lange Auseinandersetzung mit der Archivierung, die sie in Verbindung mit dem Aufwachsen in einem kulturrepressiven Rumänien sieht, und führte mit pragmatischer Besonnenheit die Gegenstände ihrer Selektion vor.

Der Künstler Olaf Nicolai, bekannt für seine transmedialen Zugänge, präsentierte seine Vorstellung eines Archivs im Sinne einer rückläufigen Kunstgegenstandsproduktion. Seine Arbeit „Szondi/Eden“ nahm er als Grundlage für eine Erläuterung all der mannigfachen Referenzen und Inspirationen, die ihm die Historie um Peter Szondi sowie seine eigene Tätigkeit als Kurator und Künstler während des Werkprozesses bot. So entließ er aus dem verdichteten Kondensat des eigenen Gegenstandes und der eigenen Auseinandersetzung mit Historie die relationslosen und doch wieder assozationsbehafteten Abläufe Berliner Stadtarchitektur und Kulturpolitik. Die Episode aus dem Leben eines fiktiven Peter Szondi entfaltete er so zu einem Fragenkomplex nach dem Ornamentbegriff Lukács': nach der Frage zum Inhalt des scheinbar Inhaltlosen.

Schließlich beteiligte sich an dieser Redereihe auch die Leiterin des Wiener theatercombinats, Claudia Bosse, mit einem Vortrag über die Praxis des Tänzerkörpers als Archiv. Sie wies dabei jedoch am Rande auf einen von ihr gestellten Zweifel im Hinblick auf die Praxis einer Vorstellung des Vortages hin: Rémy Héritiers und Laurent Pichauds „Choreographic Games“. Ihre Kritik richtete sich danach zu fragen, wie eine theoretische Formulierung einer Choreografie dorthin führen könne oder dürfe, Aussagen über die Nationalität oder gar Hautfarbe des Verfassers zu treffen. Vielleicht handelte es sich dabei um etwas, das schon im Zusammenhang mit dem Ausdruck von Nicolai, einem Fetischisieren der diskursiven Aktivität, stehen mochte. Denn die „Choreographic Games“ war eine einzige Iteration eines spannungslosen Gameshowformates mit Publikumsbeteiligung. Nahezu selbstbefriedigend wurden hier Exzerpte kanonisierter und zeitgenössischer Choreografien ohne jegliche Konsequenz und Antwort zitiert, sodass weder eine noch prätentiösere Hypothisierung mit einem affektierten Theoriejargon (was wäre die Antwort eines Ismael Ivo auf eine spezifische Aussage/Bewegung Martha Grahams, etc.) unter den Künstlern gelingen konnte, noch eine bloße Einführung tanzhistorischer Bedeutungszuschreibungen oder die Thematisierung von dem Begriff des Markanten erreicht wurde. Es blieb bei einer Abfragetätigkeit des simplen Auswendiglernens und verlor sich am Ende des Abends mit der auf Täuschung ausgelegten „Saturday Night Fever“-Nummer John Travoltas außerdem noch in der Authentizitätsdebatte von Fälschung und Original, die wiederum keine Anstalten zu einer Vertiefung der erkenntnistheoretischen Fragen von Urbild und Abbild machte.

Diesen Tendenzen schienen sich aber ebenso weitere Programmpunkte dieses „Scores“-Wochenendes anzuschließen. Die „Mobil_migration“, angeführt von Daniel Aschwanden, Conny Zenk und Veronika Meyer, ließ eine offensichtliche Hilflosigkeit im Angesicht eines politisch korrekten Umganges mit Mitmenschen aus Migrationshintergründen spüren. Aschwanden brachte eine Migrationsgeschichte nach der anderen in den Lichtfokus der Bühne und schien in gewollt unvorbereiteter Art und Weise die Lebensetappen der Beteiligten aufrollen zu wollen. Der Hang zur Empathie via authentischer Bühnenfremdheit war offensichtlich, doch der Bezug der mobilen Elektronikdatenbank zu der Thematik des Archives blieb bis auf ein Ablesen eines Gedichtes vom Handyscreen und dem Abspielen von größtenteils inhaltslosen Unterteilungen von Selfiefotos und -videos auf den Projektionsflächen nahezu unangetastet. Wie bei Penelope Wehrlis und Detlev Schneiders Installation „Transforming Acts“ war keine Auseinandersetzung mit der eigenen spezifischen Selektion und Präsentation sichtbar. Bei Wehrli und Schneider wurde zwar der vom westlichen kulturellen Gemeingeist gestiftete Kanon des modernen Bewegungstheaters exponiert (Pina Bausch, Robert Wilson, Meg Stuart, Einar Schleef, Heiner Müller etc.), doch warum dieser sich selbst genügen sollte, war gleichermaßen nicht beantwortet worden.

Andere Wege beschritten da die Performances von Arkadi Zaides und von der Formation um Siobhan Davies Dance. Zaides Performance widmete sich dem herrschenden Konflikt von Israel und Palästina. Als Ausgang für die Inkorporation von bezeugten Siedlungsvorgängen und Gewalttaten in den Schwellengebieten seiner eigenen Heimat griff der israelische Performer auf Videoaufnahmen von PalästinenserInnen zurück, die über BʼTselem (das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten) eine Verbreitung erfahren. Lange Zeit folgte in dieser Aneinanderreihung von Aufnahmen eine gewaltpotenzierte Handlung auf die andere. Beinahe in archaischen Bildern zogen die Bewegungsabläufe so ihre Kontexte vom Vertreiben des Weideviehs zum Moment der Steinschleuder. Mit seinem Reenactment dieser Vorgänge erzielte Zaides eine Widerständigkeit, eine Aufspaltung in der Kunst, wie man sie bei Rancière zu finden meint. Denn einerseits überließ er dem Betrachter einen Einblick in die realen Umstände dieser prekären Politik und andererseits befreite er die Gesten der Agierenden von deren Zuschreibungen und überführte sie somit in die ästhetische Wahrnehmung des Sinnlichen. Mit der gleichzeitigen und sich vermengenden Inkorporation der Bewegungen von Tätern sowie Opfern gelang es Zaides die Vorgänge zu entpersonalisieren und sie als "nachdenkliches Bild" in die Frage nach der Verfasstheit des Menschen einzuschreiben.

Die Siobhan Davies Dance Company widmete sich ebenso einer Herkunftssuche auf einer der Ebenen des Leopoldmuseums. Abwechslungsreich suchten sich die verschiedenen Performer ihren Partner und ihren Raum, um dort zu entbergen, was ihnen ihr eigenes Archiv an erfahrenen Choreografien bot. Dies gelang unter eben jenem Credo, das schon vor Jahren bei Siobhan Davies Dance den Veranstaltungsort als Annahme und Auslöser der tänzerischen Auseinandersetzung formulierte. So spielten die Performer mit ihrer Erinnerung im Sinne einer Neuverortung im Raum des Leopoldmuseums und brachten dies auch skizzenhaft auf Holztischen mit Kreide nieder. Schließlich boten sie an diesen in den Übergangspausen zwischen den einzelnen Elementen von getanzter Erinnerung auch den Austausch und die Konfrontation an. Ein Betrachter, dem mehrere Stunden zur Verfolgung dieser Vorstellungen zur Verfügung standen, konnte einen Vergleich dieses auch emotionalen Vorgehens von selektiver Neuinterpretation erstellen.

Insgesamt war diese „Scores“-Reihe von vielen Schwankungen in der Intensität der Auseinandersetzung mit den eigenen Methoden und Formen bewegt. Dies mag wohl auch der Programmkonzeption geschuldet sein. Gerade wenn Milli Bitterli mit ihrer lebenslangen aber demgemäß redundanten Methode zum zweiten Mal innerhalb einer Saison Eingang in eine Programmkonzeption findet. Auch die Fragen zu den Arbeitsweisen und neuen Techniken der Verbindungen von digitaler Kultur und humankörperlicher Praxis schienen nicht gehaltvoll ausgelotet. Und dennoch durfte man sich über so manche Anreicherung von Archivierung als eine selbstreferenzielle und reflektierende Praxis, die schließlich der agierende menschliche Körper auch durch seine Bewegung für sich beanspruchen kann, freuen.

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