Durchlässig bis unter die Haut

„Naked“ – die letzte Tanzpremiere von Dominique Dumais in Mannheim

Siebzig Minuten Tanz, fünfzehn Minuten Beifall. Die Messlatte für den kommenden Ballettchef Stephan Thoss hängt ziemlich hoch.

Mannheim, 02/05/2016

Ganz leise, ganz sanft und sehr eindrucksvoll fängt das Stück an: auf der Vorbühne, wo das vierzehnköpfige Ensemble des Mannheimer Kevin O’Day Balletts in loser Formation – eher wie ein Bewegungschor – Aufstellung nimmt. Die kanadische Cellistin Julia Kent, mit ihrem Instrument am Bühnenrand platziert, gibt den Grundton vor. Sie lässt in ihren Kompositionen selbst eingespielte elektronische Loops und vorgefundenes Klangmaterial mit Celloklängen live verschmelzen – ein melancholisch gefärbtes Crossover zwischen melodischen und repetitiven Strukturen. Es ist, ganz klar, ein weinendes Auge mit dabei an diesem Abend im Nationaltheater. „Naked“ ist nicht nur die letzte Premiere der laufenden Spielzeit, sondern auch die letzte der vierzehnjährigen Amtszeit von Ballettchef Kevin O’Day und seiner Partnerin Domique Dumais.

Die choreografische Entwicklung der Kanadierin, die von Anfang an als gleichberechtigte Hauschoreografin die Kompanie mit geprägt hat, ist eines der herausragenden Ergebnisse dieser Ära. In einer Trilogie zu höchst unterschiedlicher Livemusik hat die eher als intellektuelle Bewegungstüftlerin angetretene Choreografin für sich beglückendes Neuland entdeckt und erobert: den reinen, rauen, sozusagen noch ungehobelten Tanz („R.A.W.“ 2012) und den Sog der Überwindung von Schwerkraft durch Schwung („Pure“ 2014). „Naked“ ist der letzte Teil dieser Trilogie und meint weit mehr als den nackten Körper – hier geht es um Durchlässigkeit bis unter die Haut.

Entscheidend für das neue Bewegungsmaterial, mit dem Dominique Dumais seit „Pure“ arbeitet, war die Begegnung mit dem Bewegungstrainer Frey Faust, der ihren Blick für funktionale Anatomie und natürliche Bewegungsketten schärfte. Viel davon sieht man in „Naked“: Fließende und sehr selbstverständlich wirkende Bewegungen, die scheinbar isoliert anfangen und doch den ganzen Körper einbeziehen; die in Extremitäten beginnen können, sich bis ins Körperzentrum fortschreiben und dabei auch im emotionalen Sinn und unter die Haut gehen. Viele intensive Begegnungen zwischen den überaus gut aufeinander eingespielten, individuell so verschiedenartigen Mitgliedern des Mannheimer Ensembles lässt Dominique Dumais geschehen und lenkte den Blick wieder und wieder auf das Fließen von Bewegungsenergie – immer anders, immer auf eine starke Mitte gegründet.

Noch einmal hat die Choreografin mit ihrem bewährten künstlerischen Team zusammengearbeitet, mit der kanadischen Lichtdesignerin Bonnie Beecher und der Niederländerin Tatyana van Walsum für Bühne und Kostüme. Sie wählte die Farbpalette Schwarz – Weiß – Grau mit dramatischen knallroten Varianten in den Kostümen. Die Damen haben schlichte Hemdchen und nackte Beine, die Herren lange Hosen zum blanken Oberkörper. Der Gegensatz zwischen Verhüllen und Enthüllen ist von Anfang an augenfällig und wird im Stück variantenreich durchgespielt. Von oben herabhängende, riesige geraffte Stoffbahnen definieren den Bühnenraum. Nach und nach werden die Stoffbahnen herab- und ins Spiel einbezogen: als Versteck oder Decke, als gewickeltes Kostüm mit immenser Schleppe, und am Ende als weiß wogendes Meer aus Ballonseide. Es verhüllt alle Tänzer, während sie sich ihrer zuletzt schwarzen Hemden und Hosen entledigen. Die bleiben verstreut auf der leeren Bühne liegen, während die TänzerInnen in hautfarbenen Dessous für ihren endgültigen Abgang umso ungeschützter und verletzlicher scheinen.

Siebzig Minuten Tanz, fünfzehn Minuten Beifall. Die Messlatte für den kommenden Ballettchef Stephan Thoss hängt ziemlich hoch.
 

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