„Giselle“ von Jean Coralli / Jules Perrot

„Giselle“ von Jean Coralli / Jules Perrot

Eigentlich ein Revolutionsballett

„Giselle“ an der Opéra de Paris

Wie ein verkleideter Prinz ein Mädchenherz zerstört und dann von ihr gerettet wird.

Paris, 15/06/2016

Mit Kusshändchen in bäuerlicher Verkleidung fängt es an, das alte Blumen-Orakel „er liebt mich, er liebt mich nicht“, wird kurzerhand manipuliert, dann kommt ein Geschenk hinzu: Prinz Albrecht weiß, wie man sich ein Mädchen vom Lande gefügig macht. Und Giselle ist ein gar zu unverfälscht-natürliches Ding, als dass sie Verdacht wittern würde. Und schon wird der Betrug offenbar: Mit der adligen Jagdgesellschaft kommt auch Albrechts verlobte Bathilde ins Dorf, er küsst sie, die Oberschicht ist wieder unter sich. Vor der fragenden Giselle weicht Albrecht nun kalt zurück. Man kann verstehen, dass sie an gebrochenem Herzen stirbt. Und weil man das nicht genügend sehen würde, muss sie tanzen, was als rustikale Belustigung der Hofgesellschaft geplant ist, also doppelt demütigt, aber auch aufrüttelnd für alle zum Tode führt.

Man müsste eigentlich ein Revolutionsballett aus dieser „Giselle“ machen, so herzlos gehen die Machthaber hier und letztlich ja auch grundsätzlich mit ihren Untergebenen um. Die Romantik dieses romantischen Balletts par excellence ist jedenfalls eine dunkle Romantik, eine die ihre herzensguten Naturwesen zwar nicht vor der Ausbeutung schützt, aber zumindest im Jenseits rächt. Da tauchen nämlich all diese verführten, nach herrschendem Sittenkodex gefallenen, meist mit unehelichen Kindern dem Selbstmord preisgegebenen Unterschichtmädchen wieder auf, tragen die weißen Brautkleider ihrer versprochenen, aber nie vollstreckten Hochzeiten nun als Totengewänder - und tanzen als sogenannte Wilis, eine Art Rachefeen, alle nächtens in ihren Walddistrikt eindringenden Männer zu Tode.

Kleiner Schönheitsfehler: der brave Waldhüter Hilarion, der Giselle wirklich herzlich liebt und vor Albrecht bewahren wollte, ist ihr erstes Opfer. Und der womöglich reuige, aber eben doch schuldige Albrecht wird durch Giselles Interventionen über die Tanzrunden gerettet. Die Romantik ist eben nicht gerecht. Aber vielleicht vermag sie ja durch Rührung und das schauerliche Gegenbeispiel die Herzen und Sinne zu verändern. Darauf vertraut offenbar auch das Ballett der Pariser Oper, das ja auch schon Mats Eks Version des alten Stoffes von Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Staint-Georges getanzt hat und nun mit frisch gemalten Repliken der Originalbühnenbilder von Alexandre Benois wieder die 1841 von Jean Coralli und Jules Perrot kreierte Urfassung, eingerichtet von Patrice Bart und Eugène Polyakov, spielt. Ein Juwel für den Palais Garnier, ein Stück lebendige Ballettgeschichte, für die in Deutschland der Tanzerbe-Fonds bemüht würde, und natürlich ein Fest für die Pariser Kompanie.

Im ersten Akt herrschen die eingangs beschriebenen Pantomimen vor, da haben die Pariser eine natürliche Anmut entwickelt, die vor Übertreibung bewahrt. Es gibt schöne Walzer des Volkes, Gruppentänze aufgefächert zur bühnengreifenden „Windmühle“, und dann jenen Pas de deux des Bauernpaares, bei dem François Alu an der Seite von Lydie Vareilhes mit Battements zu allen Seiten, hochfliegenden Entrechats und Tours en l'air punktet. Packend gerät der Todestanz Giselles, der Dorothée Gilbert Weichheit und einen Schuss Verrücktheit gibt, wie er angesichts ihrer Enttäuschung verständlich wird. Zunächst versonnen für sich hin tanzend, obwohl ja zur Unterhaltung der Gesellschaft aufgerufen, gerät sie zusehends in Verzweiflung, weicht lachend zurück, stürzt mit geweiteten Augen des Schreckens zunächst in der Mutter, letztlich aber in Verräter Albrechts Arme und stirbt.

Mit dieser Schuld leben zu müssen, mag schon zu nächtlichen Visionen von tanzenden Bräuten führen. Sie schweben im zweiten Akt paarweise auf Spitze ein, eine sich wie im Wind wiegende Masse in zartem Tüll und Bühnennebel, angeführt von der kühl und fix agierenden Valentine Colasante als ihre Königin Myrtha. Während sie rückwärtstrippeln, legt Giselle ein Solo mit Pirouetten und federnden Hüpfern hin, wie aufgezogen oder von Geisterhand bewegt. Dann wird's ernst: Hilarion taucht auf, von Vincent Chaillet mit schöner Herzlichkeit und nun gleich auch kraftvoller Ausdauer getanzt. Denn die Wilis formieren sich in arithmetischer Harmonie nacheinander zu Zickzack, Kreis und Diagonale, an denen sich der arme Hilarion tanzend abarbeiten muss, und entgeht doch nicht dem Tod durch Erschöpfung.

Gleiches würde nun Albrecht blühen, würfe sich Giselle nicht immer wieder im Wortsinn für ihn in die Bresche. Mal mit Zeitlupen-Arabeske, mal mit bittenden Händen, dann auf flotter Spitze federnd und in Pirouetten ausgreifend hält sie die Wilis auf. Dorothée Gilbert ist hier unermüdlich und wahrt eine zwischen dem verliebten Mädchen von einst und der unnahbaren Fee schwankende Ausstrahlung.

Aber Albrecht muss schon auch was leisten für seine Errettung. Endlich hält und hebt er Giselle mit tieferer Zuneigung, ob da wirklich Liebe oder eher Todesangst der Antrieb ist, lässt sich schwer entscheiden. Als Gast vom Londoner Royal-Opera-House-Ballet besticht der Russe Vadim Muntagirov durch ungemeine technische Sicherheit und Sprungstärke. Was er hier an Tours en l'air und unendlichen Entrechats absolviert, ist atemberaubend und hält letztlich auch dem anrollenden Walzer der Wilis stand. Während sie mit dem Morgengrauen zu Seiten stieben und Giselle wie ferngesteuert rückwärts in ihr Grab trippelt, bleibt Albrecht erschöpft, aber lebend am Boden zurück. Zu welchem Nutzen er sein Leben einsetzen wird, ob er respektvoller mit den Mädchen der Unterschicht umgehen wird, man kann es ihm nur wünschen. Oder mit neuen Albträumen voller Wilis drohen.

Adolphe Adams Musik dazu wurde vom Orchestre des Lauréats du Conservatoire de Paris, also hervorragenden Studierenden im Bühnenpraxiseinsatz, unter Koen Kessels Leitung wunderbar frisch und engagiert dargeboten.
 

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