Run, Baby, run!

Olivier Dubois und das Ballet du Nord eröffnet mit „Auguri“ das Sommerfestival auf Kampnagel

An den Flug von Vögeln erinnert diese Choreografie, die volle 70 Minuten lang aus nichts anderem besteht als aus Rennen und vereinzeltem Innehalten, mal alleine, mal in Gruppen, mal alle zusammen.

Hamburg, 14/08/2016

Dunkel, am Anfang ist es nur dunkel. Nachdem sich das Auge etwas daran gewöhnt hat, werden schemenhaft vier große Kästen im Bühnenhintergrund erkennbar. Aus weiter Ferne beginnt ein tiefes Wummern (mehr eine Geräuschkulisse als Musik: François Caffenne). Diffuses Licht (Lichtregie: Patrick Riou) beleuchtet einen Raum hinter dem rechten Kasten. Eine Frau tritt hinein, tizianrotes langes Haar, eher üppig von Statur, keine typische Tänzerinnen-Grazie. Sie steht da nur und schaut zum Publikum. Ruhig, gelassen. Wie eine Statue. Bis sie vom Dunkel wieder verschluckt wird. Es dauert rund 10 Minuten, bevor sich etwas mehr Licht in das Dunkel vortastet und vereinzelt eine Gestalt irrlichternd über die Bühne huscht. Mehr Ahnung als Realität.

Und langsam, sehr langsam werden es mehr, wird das Licht heller. Sie rennen und flitzen, jagen und wuseln über die Bühne, immer haarscharf aneinander vorbei, immer mit vollem Tempo, bis sie die Düsternis hinter den Kästen verschluckt. Auch die Geräusche verändern sich jetzt: Dem Wummern gesellt sich wellenartiges Rauschen hinzu, schwillt an zu einer ubiquitären Geräuschkulisse, der man nicht entrinnen kann. Das Licht steigert sich zur Helligkeit, die eine Zeit lang auch vom Stroboskop in zuckende Blitze getaucht wird, während die 22 Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne hetzen, sich schubsen, drängeln, taumeln, fallen, aufstehen, weiterhetzen, um sich schließlich hinter den vier Kästen skulpturartig zusammenstellen, immer wieder die Position verändernd.

Vier Schaukästen, in denen Menschen sich begegnen, berühren, betasten, vereinen, verlassen, um sich erneut zusammenzufinden. Sie erklimmen schließlich diese vier Kästen und bleiben oben liegen, bis die Fläche von Menschen überquillt, um dann zähflüssig einzeln herunterzutropfen, wieder hinaufzusteigen, herabzusinken. Bis das Wummern und Wogen der Musik langsam leiser wird, und – wie am Anfang – die rothaarige Frau in einen diffusen Lichtkegel tritt, steht und schaut, und im Dunkel verschwindet.

Olivier Dubois wollte mit „Auguri“, so heißt es im (wie immer äußerst dürftigen Programmzettel), „die Bühne zu einem Orakel der Menschheit machen“. Denn Auguri, das waren im alten Rom Priesterbeamte, die den Flug der Vögel als Orakel interpretierten. An den Flug von Vögeln, vor allem den atemberaubenden Kurvenflügen der Schwalben und Mauersegler, erinnert auch diese Choreografie, die volle 70 Minuten lang aus nichts anderem besteht als aus Rennen und vereinzeltem Innehalten, mal alleine, mal in Gruppen, mal alle zusammen. Immer wieder im Wechsel, in an- und abschwellenden Sequenzen. Die Magie liegt in diesem so absichtslos erscheinenden, aber extrem gut durchdachten und ausgeklügelten Rhythmus des Kommens und Gehens. Man wird davon angesogen und ausgespuckt, verschluckt und aus der Schwerkraft gehoben. Das hat zwar nicht mehr viel mit Tanz zu tun – außer dem Gehetze über die Bühne gibt es kaum andere Bewegungen. Und logischerweise tragen alle weder Schläppchen noch Spitzen- oder andere Tanzschuhe, sondern solide Laufschuhe mit sehr rutschfester Sohle. Und doch hat es etwas enorm Tänzerisches, dieses herein- und hinauswogende Flitzen.

Olivier Dubois ist hier ein Werk gelungen, das lange in Erinnerung bleibt, gerade durch diese atemlose Intensität des Rennens. Bewundernswert die Kondition des gesamten Ensembles! Bleibt zu hoffen, dass dieses Gehetztwerden dann aber doch nicht die Zukunft der Menschheit ist...
 

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