Artur Michel, dem Kulturjournalisten zum 70. Todestag

Frank-Manuel Peter gibt die gesammelten Kritiken von Artur Michel heraus

Artur Michel ist ein Glücksfall in der Tanzgeschichtsschreibung, denn er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort: in Berlin, wo sich die künstlerischen Strömungen treffen und kreuzen.

Berlin/Köln, 29/12/2016

Der Herausgeber Frank-Manuel Peter, Leiter des Deutschen Tanzarchivs Köln, beschreibt im Vorwort auf welch‘ besondere Weise – durch eine Fernsehsendung! – es zu einer ersten unvollständigen Sammlung von Kritiken Artur Michels (1883–1946) im Tanzarchiv und damit zur Initialzündung für diese Edition kam, in welcher Struktur und mit welchen Rätseln diese Sammlung überliefert worden ist und wie viel Mühe ihre Vervollständigung bereitete: 1990 erhielt das Deutsche Tanzarchiv die Sammlung. Herausgegeben wurde sie ein Vierteljahrhundert später. Man kann sich vorstellen, welche Arbeit und Ausdauer dieses Projekt allen Beteiligten abgefordert hat. Und es hat sich gelohnt!

Alle Tanzkritiken von Artur Michel von 1922 bis 1934 in der Vossischen Zeitung sind nun chronologisch nachlesbar. „Hut ab“ vor Artur Michel und Frank-Manuel Peter! Respekt dem einen dafür, dass er uns zwölf Jahre seiner Tanz-Gegenwart überliefert hat, Respekt dem anderen dafür, dieses heute wieder erfahrbar gemacht zu haben.

Anhand des Namensregisters lassen sich sofort die langjährigen Protagonisten der Zeit von den nur kurzfristig Erschienenen unterscheiden. Mary Wigman führt unangefochten. Mit einigem Abstand folgen dann die bekannten Größen des modernen Tanzes: (Gret) Palucca, Rudolf von Laban, Yvonne Georgi, Niddy Impekoven, Vera Skoronell, Max Terpis, Harald Kreutzberg und viele andere mehr. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die den modernen Tanz lieben!

Um auch den Menschen hinter den Veröffentlichungen lebendig werden zu lassen, skizziert Marion Kant Herkunft und Werdegang von Artur Michel. Vermutlich wurde er als Kunstkritiker der konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung durch seinen Feuilleton-Redakteur Fritz Böhme dazu angeregt, über Tanz zu schreiben. Denn nach seinem Wechsel zur liberalen Vossischen Zeitung im Jahr 1922 begann er umgehend damit. Neben seiner Tätigkeit als Tanz- und Theaterkritiker betrieb er auch umfangreiche Feld-Studien zum Volkstanz in Europa. Artur Michel wird als ein hochgebildeter, kunsthistorisch interessierter und versierter Theater-Kenner und Könner seiner Zunft vorgestellt. Das Geheimnis seines Erfolges als Tanzkritiker sieht die Autorin zurecht darin, dass er einen bildhaften Schreibstil kultiviert hat, der es den Leserinnen und Lesern ermöglichte, vor ihrem inneren Auge nachzuvollziehen, was er auf der Bühne gesehen hatte. Sie beschreibt seine Kritiker-Laufbahn als einen Prozess „vom Tanzbeobachter zum Tanzgeschichtsschreiber der wichtigsten Epoche des modernen künstlerischen Tanzes in Deutschland".

Damit ist Artur Michel ein Glücksfall in der Tanzgeschichtsschreibung, denn er ist mit seinem Interesse und seinem Können zur richtigen Zeit am richtigen Ort: in Berlin, in der Mitte Europas, wo sich die künstlerischen Strömungen treffen und kreuzen. So erlebt er den großen Umbruch des Bühnentanzes vom klassischen Ballett – über die Erneuerung durch Michel Fokine und die Ballets Russes – hin zu einer neuen Bühnenkunst in der Ausprägung Rudolf von Labans und Mary Wigmans. Doch Artur Michel schaut sich nicht nur die bekannten Größen an, sondern schreckt auch vor völlig Unbekannten nicht zurück und schreibt, schreibt, schreibt. So erfährt man von Einzelerscheinungen, Kontinuitäten und Entwicklungen. Man begegnet in seinem Werk unendlich vielen, uns heute unbekannten Namen und Kreationen, sodass man nun wenigstens eine Ahnung davon bekommt, mit welcher Kreativität und in welchem Umfang der Tanz damals die Bühnen belebt hat.

Artur Michel hat sich dabei mit seinen Wertungen klar für die Seite des modernen Tanzes entschieden. Seine Formulierungen das Ballett betreffend sind mitunter verheerend. Einzig einige Werke der Ballets Russes und die wirklich Großen dieser Kunst wie Tamara Karsawina ringen ihm Respekt ab.

Aber auch die modernen Tänzerinnen und Tänzer werden von ihm mit teilweise harscher Kritik bedacht. Mit Palucca z. B. geht er, entgegen dem uns heute scheinbar wahrhaft überlieferten Bild, damals oft sehr kritisch ins Gericht. Die einzigen Ausnahmen, die von ihm immer gelobt werden, sind Niddy Impekoven und Mary Wigman. Insbesondere sein Vokabular für Mary Wigman lässt keine Zweifel an ihrer Größe zu. Sie sei die „geborene Führerin“, sei „kostbarster nationaler Besitz." Er nutzt jede erdenkliche Möglichkeit, um sie zu protegieren, lässt keine ihrer Berliner Vorstellungen ungerühmt vorüberziehen. Zu ihr fährt er nach Dresden, reist ihr nach Rom und Paris nach, trifft sie auf den Tänzerkongressen.

Er ist als Zeitgenosse auch nicht frei von Irrtümern. So lehnt er alle Versuche, Klassik und Moderne im Tanz zu verbinden, kategorisch ab. Alexander von Swaine z. B., der gerade wegen dieser Verbindung der Stile weltweit Erfolge feiern wird, degradiert er eben darum zur „Tanzmarionette“. Wenn es nach ihm gegangen wäre, gäbe es heute weder den klassisch-romantischen Tanz noch den neoklassischen, sondern nur den modernen Tanz deutscher Prägung.

Neben dieser rigorosen Bewertung künstlerischer Werke ist es auch sein Vokabular, das bedenklich stimmt, weil es ab den 1930er Jahren zunehmend dem Jargon der Zeit verfällt. Rasse, Blut und Gesundes im Tanz tauchen in den Beschreibungen immer häufiger auf. Daran ist eben auch zu merken, dass der Zeitgenosse Artur Michel nur ein Rädchen im Räderwerk der Geschichte ist, das er selbst zwar schreibend mit antreibt, von dem er aber doch gleichermaßen getrieben wird und in das er am Ende auch selbst gerät.

Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten verliert Artur Michel seine Berufsgrundlage. Die Vossische Zeitung stellt am 31. März 1934 ihr Erscheinen ein. Er erhält am 9. März 1935 „aus rassischen Gründen“ die Ablehnung für die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer. Artur (eigentlich Arthur) Michel ist Jude. Aber er bleibt bis zum Februar 1941 in Berlin. Über Lissabon und Havanna gelangt er dann nach New York City, wo er am 24. Juni 1941 ankommt. Artur Michel befasste sich nach seiner Ankunft in den USA sofort mit dem dortigen modernen Tanz und begann wieder zu schreiben. Am 16. November 1946 starb er in New York.

Doch seine Rezensionen der Weimarer Republik überdauern und liefern ein neues, weil zusammenhängendes und zusammenfassendes Bild von der Tanz-Gegenwart dieser Zeit, die uns heute oft als verklärte und überhöhte Tanz-Geschichte erscheint. Manche lieb gewordene Legende über diese oder jene künstlerischen Ahnen muss wohl nach der Lektüre neu formuliert werden. Dieses Buch ist ein „must have“ für alle tanzhistorisch Interessierten!

(Erstveröffentlichung: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.), Kultur Report, Heft 4.2016, S. 22-25)

Frank-Manuel Peter (Hg.): Die Tanzkritiken von Artur Michel in der Vossischen Zeitung von 1922 bis 1934 nebst einer Bibliographie seiner Theaterkritiken. Mit einer biographischen Skizze über Artur Michel von Marion Kant (Studien und Dokumente zur Tanzwissenschaft Bd. 7), Frankfurt/M.: Peter Lang 2015, 633 S., mit Abb., 99,95 Euro

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Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 107, A-A v. 04.03.1929

Metaphysisches Varieté
Die Bauhaustänzer in der Volksbühne

Was ist dies nun? Mechanisches Kabarett, metaphysische Exzentrik, seelenhafte Equilibristik, ironisches Varieté? Ist es vielleicht alles zusammen, bald dies mehr, bald jenes? Geschaffen hat es Oskar Schlemmer, ein Schwabe lobesam, metaphysisch wie nur je ein Tübinger Stiftskandidat. Im Dessauer Bauhaus, mit seiner jungen Gruppe.
Was hat er geschaffen? Da erscheinen drei schmale Wände, rot, gelb, blau (triadisch nennt man das im Bauhaus), in Winkeln zueinander, »mit Zwischenraum, hindurchzuschau‘n«. In die Zwischenräume schwirren erst Hände, dann Beine, dann drei ganze Männer, rot, gelb, blau, und sie marschieren, tanzen, laufen zwischen den Kulissen hindurch, bis endlich einer mit dumpfem Schrei wegstürzt, der zweite tot hinstürzt, der dritte sich in Siegerpose stellt.
Oder die drei bauen aus Klötzen einen Turm. Der letzte Klotz bleibt übrig, der Turm ist zu hoch. Sie holen zwei Klötze herunter, legen den letzten darauf und türmen das Türmchen auf den Turm. Triumph!
Oder: in barocken Frauenmasken und -kleidern führen sie Tänze pompös-koketter Gesten und Posen auf, so zwischen Menuett und Cancan, steigern sie schließlich zu einem tollen Drehtanz.
Oder: sie schreiten, mit silbernem, goldenem, blauem Kugelkopf, sachlich-nüchtern, Ränder, Diagonale, Mittellinie eines Rechtecks ab. In verschiedensten Rhythmen; und von dem Durchhalten und Sichwandeln der Raumspannung geht eine merkwürdig spannende und entspannende Wirkung aus.
Oder ein Chor von phantastischen Maskenwesen gleitet, schwebt spukhaft aus der Tiefe, aus der Luft, von den Seiten herein. Sie finden sich feierlich an langer Tafel, lassen die Gläser klingen, setzen sich, erheben sich, stoßen wieder an, setzen sich wieder, gleiten, fliegen, schweben lautlos, einzeln, zu Paaren hinaus. Eine Lemurenzunft!
Dann ein Sketch: mit Mond, Liebesgefühlen, Mord ohne staatliche Genehmigung, Polizei, auferstehenden Toten und neuer Sachlichkeit. Aber das Wesentliche auch hier ist doch der Bewegungsulk. Jeder der Spieler hat sein zeitgemäßes Bewegungsthema: am Schluß vereinen Lebende und Tote sich zu einem gemeinsamen Tanz, in dem diese Themen kontrapunktisch zusammenknallen.
Aber es gibt auch ganz andere Dinge: einen Tanz der Stäbe (die der unsichtbaren, schwarz vor schwarz tanzenden Trägerin an die Glieder gebunden sind), einen Reifentanz, einen Tanz in Metall, einen Tanz in Glas (die Tänzerin trägt einen Reifrock aus Glasstäben, eine Glasscheibe um den Hals und Glaskugeln in den Händen; eine Wonne für die Augen ist das Gefunkel des über die Glasformen gleitenden Scheinwerferlichts).
Gemeinsam ist allen diesen Tänzen eins: das Pathos und die Ironie des Zeremoniellen. Die Stäbe wie die Reifen, das Metall wie das Glas bewegen sich wie nach rituellen Vorschriften. Aber man muß es aussprechen: gerade diese vom Material ausgehenden Tänze bleiben im Ornamentalen befangen oder in der Handfertigkeit stecken. Aus ihnen spricht nicht die vom Programm verkündigte Intensität. Das Eigentliche, der Bewegungsvorgang, wächst nicht ins Phantastische hinein, wie er doch gemeint ist.
Jene Tänze dagegen, in denen das Zeremonielle körperlich ins Ironische, in die Groteske umschlägt, gelangen wie von selber zu tieferer Bedeutung. Sie sprechen zum Zuschauer, auch wenn er manchmal zuerst nicht weiß, wo das hinaus soll, oder auch wenn ihm nicht alle Rhythmen im Auge tänzerisch zusammenklingen.
Wesentlich ist: die Bauhausbühne hat mit diesen Versuchen Neuland betreten. Man soll sich ihres Bemühens und der Anregungen, die davon ausgehen können, freuen.

Artur Michel

 

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