Eine kleine Revolution

Kooperation zwischen „TanzArt ostwest“ und der Shenzhen Arts School

Seit 2012 steht Tarek Assam als Leiter der „TanzArt ostwest“ in regelmäßigem Austausch mit verschiedenen Städten und Tanzkompanien in China. Nun will er mit der Arts School in Shenzhen einen Lehrplan für zeitgenössischen Tanz erarbeiten.

Gießen, 31/01/2017

Im Anschluss an das „TanzArt ostwest“-Festival Pfingsten 2016 wurde ein Kooperationsvertrag zwischen Hessen und Shenzhen geschlossen, den niemand erwartet hätte. Der Vertrag zwischen dem TanzArt ostwest-Verbund mit Sitz in Gießen und der Shenzhen Arts School in Südchina ist auf fünf Jahre angelegt und sieht die Erarbeitung eines Lehrplans für zeitgenössischen Tanz vor. Was für westliche Ohren unspektakulär klingt, ist auf chinesischer Seite eine kleine Revolution. Denn Shenzhen ist damit die erste Arts School of Song and Dance in China, die den zeitgenössischen Tanz als normales Unterrichtsfach einführen will. Neben der gut 1000-jährigen Tradition des chinesischen Volkstanzes. Da begegnen sich Kulturwelten.

Seit 2012 steht Tarek Assam als Leiter der „TanzArt ostwest“ in regelmäßigem Austausch mit verschiedenen Städten und Tanzkompanien in China. Zum Programm der China-Besuche gehörte auch der Besuch der Arts School in Shenzhen. Die erste Zusammenarbeit mit Shenzhen fand im Grimm-Jubiläumsjahr 2013 statt, als Tarek Assam - aufgrund einer Anfrage des Hessischen Ministeriums für Kunst und Wissenschaft (HMWK) - mit einer Gruppe der Shenzhen Arts School eine chinesisch inspirierte Choreografie zu Märchen der Brüder Grimm erarbeitete. Die Umsetzung bewerkstelligte er gemeinsam mit Guido Markowitz, der mittlerweile das Tanzensemble am Theater Pforzheim leitet. Die große Ausstellung „Expedition Grimm“ in der Kasseler documenta-Halle wurde mit dem deutsch-chinesischen Tanzstück eröffnet.

Danach war die elfköpfige Gruppe, bestehend aus Tanzlehrern und -schülern mit ihrem Übersetzer Hongye Huang, genannt Frank, für einen Monat bei der Tanzcompagnie Gießen (TCG) zu Gast. Während des Arbeitsaufenthaltes lernten die Chinesen die Arbeitsweise der TCG kennen, sie gaben selbst Kurse und hatten Auftritte im klassisch chinesischen Tanz. Der Eindruck war offenbar nachhaltig.Denn als die neu erbaute Kunstschule von Shenzhen 2015 feierlich eröffnet wurde, war die TCG eingeladen und zeigte eine Performance aus dem Stück „Satz des Pythagoras“. Assam gab erste Lectures in zeitgenössischem Tanz, die mitgefahrenen TCG-Mitglieder zeigten den chinesischen Tanzschülern, die zwischen 17 und 21 Jahre alt sind, die konkrete Umsetzung. Seitdem kommt eine Delegation fast regelmäßig zum „TanzArt ostwest“-Festival in Gießen, nutzt es als Blick in die reiche Welt des zeitgenössischen Tanzes.

Bei der „TanzArt“ 2016 äußerte Direktor Huang Quicheng erstmals den Wunsch nach einer festen Kooperation zwischen Shenzhen und Gießen, mit dem Ziel einen Lehrplan für die Shenzhen Arts School zu erarbeiten. Das besondere Interesse der Chinesen gilt den Improvisationstechniken, das kennt man dort nicht. Vereinbart wurde die Einrichtung einer Gastprofessur, dafür fliegen hiesige Tanzpädagogen drei Mal pro Jahr für vier Wochen nach Südchina. Das Arbeiten dort wird mit einem Lehrplan vorbereitet, schriftlich und per Video dokumentiert. Tarek Assam übernimmt während der ganzen Zeit die Supervision.

Der erste Tanzpädagoge war im Oktober bereits in China: Tillmann Becker (Braunschweig) hat sich auf das Abenteuer eingelassen. Für jedes Gespräch, jede Unterrichtseinheit benötigt er einen Übersetzer, das erfordert intensive Vor- und Nachbereitung. Seine Gruppe bestand aus Teilnehmern, die bereits in Gießen waren, also eine Ahnung von tänzerischer Improvisation hatten. Sie seien sehr wissbegierig und offen gewesen. Das Ergebnis zeigte Becker im Dezember in einer eindrucksvollen Aufführung der Studierenden, während der Feier zum 30-jährigen Bestehen der gesamten Shenzhen Arts School. Natürlich waren die Gießener dazu eingeladen, Tarek Assam hielt einen Vortrag über Modern Dance und die TCG-Mitglieder tanzten das jüngst Assam-Stück „Gravitas“. Zur studentischen Aufführung des ersten Workshops mit Improvisationstechniken waren rund 300 Schuldirektoren aus allen Provinzen Chinas eingeladen, doch der Saal mit seinen 1200 Sitzen war proppenvoll. „Das Interesse war immens“, so Assam, und die Begeisterung groß.

Die nächste Gruppe wird aus Schülern und Schülerinnen bestehen, die einzig mit ihrem Wissen und der Erfahrung im chinesischen Volkstanz kommen. Da wird sich noch mal anders zeigen, wie zeitgenössische Improvisationstechniken bei ihnen ankommen. „Die Chinesischen Studenten sollen Gefühlswelten auf der Bühne anders als bisher erlernt zulassen“, erklärt Assam, „Improvisation funktioniert nicht ohne Gefühle zu zeigen, und das ist in der von Ritualen geprägten Tanztradition Chinas nicht üblich, es wird fast ausschließlich in stilisierter Form gezeigt und ist deshalb aus heutiger Sicht wenig authentisch. Insofern ist die Erprobung für jeden einzeln auch ein großer persönlicher Schritt.“ Im Juli wird Paolo Fossa das chinesische Abenteuer wagen und im August Susanne Fromme, beide sind Trainingsleiter der TCG.

Die Region Shenzhen ist eine Freihandelszone mit ca. 30 Millionen Einwohnern, gelegen auf der Festlandsseite der Bucht von Hongkong. In Shenzhen befindet sich das „Silicon-Valley von China“. Die reiche Kulturszene wird vom Kulturamt Shenzhen gefördert, auch der Aufbau einer eigenen modernen Tanzszene. Da Shenzhen Partnerregion von Hessen ist, werden vereinzelt Austauschprogramme vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) gefördert.

Der Kooperationsvertrag wurde möglich durch das auf wechselseitigem Austausch beruhende "TanzArt ostwest"-Festival, das Assam noch in seiner Zeit am Nordharzer Städtebundtheater mitgründete und seitdem koordinierend leitet. Mit seinem Start als Ballettdirektor am Stadttheater Gießen 2002/03 brachte er das Tanzfestival auch nach Mittelhessen, wo es seitdem jährlich stattfindet. Das Netzwerk ist in den vergangenen 18 Jahren stetig gewachsen und bietet eine optimale Ressource für das Entsenden von Tanzpädagogen nach China. „Das Interesse ist groß“, so Assam, „es bedeutet für jede*n Einzelne*n eine besondere Erfahrung.“

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