„Die Möwe“ von John Neumeier. Tanz: Emilie Mazon, Marc Jubete.

„Die Möwe“ von John Neumeier. Tanz: Emilie Mazon, Marc Jubete.

Der Vogel stirbt, die Kunst bleibt

John Neumeiers „Die Möwe“ frei nach Anton Tschechow beim Hamburg Ballett

Nach gefühlt einer halben Ewigkeit (in Wahrheit waren es „nur“ zehn Jahre) steht John Neumeiers 2002 uraufgeführte „Die Möwe“ wieder auf dem Spielplan des Hamburg Ballett - mit diversen, höchst sehenswerten Rollendebuts.

Hamburg, 13/03/2017

Nach gefühlt einer halben Ewigkeit (in Wahrheit waren es „nur“ zehn Jahre) steht seit Ende Februar endlich John Neumeiers 2002 uraufgeführte „Die Möwe“ wieder auf dem Spielplan des Hamburg Ballett. Es ist definitiv eines von John Neumeiers schönsten und intensivsten Balletten, gespickt mit vielerlei Herausforderungen für die Haupt-, aber durchaus auch für die Nebenrollen. 2017 gab es hier eine ganze Reihe von Rollendebuts – allesamt sehenswert, wenngleich die zweite Besetzung der ersten hier an Dynamik und Intensität eindeutig den Rang abläuft. Was allerdings weniger an den Hauptrollen (Kostja und Nina) lag, als an den anderen das Stück tragenden Protagonisten (Arkadina und Trigorin).

Neumeier nimmt sich die Freiheit, Tschechows Stück nicht wortwörtlich in Tanz zu übersetzen, sondern bezieht daraus die Inspiration, die Essenz der Charaktere durch Tanz auszudrücken. Anlässlich der Uraufführung fasste Neumeier sein Anliegen so zusammen: „Was bedeutet es, verliebt zu sein? Was bedeutet es, ein Künstler zu sein? Was bedeutet es, ein verliebter Künstler zu sein? Was bedeutet es, jemand zu sein, der in die Idee verliebt ist, Künstler zu sein?“ Genau darum geht es in diesem Stück – es sind zeitlose Themen, spartenübergreifend übertragbar. Und so ist Irina Nikolajewna Arkadina bei Neumeier eine alternde Primaballerina, Kostja, ihr Sohn, kein aufstrebender Autor, sondern ein melancholischer Choreograf, der das verstaubte klassische Ballett revolutionieren möchte. Trigorin, Arkadinas Liebhaber, mutiert vom erfolgreichen Schriftsteller zum Choreografen, und Nina schließlich ist keine Schauspielerin, sondern Tänzerin. Großartig Neumeiers Kunstgriff, Kostjas choreografische Experimente auf eine Bühne auf der Bühne zu verlagern, mit grafisch-abgezirkelten Kostümen. Sehr gekonnt auch die Musik-Auswahl: Schostakowitsch, Tschaikowsky und Skrjabin für die Haupthandlung, wilde Percussion-Musik von Evelyn Glennie zu Kostjas Traum-Tänzen.

Zu Beginn sind Nina und Kostja ein höchst verliebtes junges Paar, während Mascha, die Tochter des Gutsverwalters Sorin, unglücklich in Kostja verliebt ist. Kostja zeigt auf dem Landsitz der Eltern sein neuestes Tanzstück „Die Seele der Möwe“ mit Nina in der Hauptrolle – zum Entsetzen seiner Mutter, die als durch und durch klassische Ballerina damit so gar nichts anfangen kann und sich nur darüber mokiert und lustig macht. Kurz darauf geht Nina dem Macho Trigorin auf den Leim, sie erliegt seiner Männlichkeit, gegen die der eher melancholische, in sich gekehrte Kostja keine Chance hat. Nina folgt Trigorin nach Moskau und erhält eine Stelle als Revuetänzerin. Trigorin hat inzwischen das Interesse an ihr verloren und widmet sich wieder uneingeschränkt Arkadina, für die er ein schwülstiges, klassisches Ballett kreiert: „Der Tod der Möwe“. Kostja, blind für Maschas Liebe, ist weiterhin in Nina verliebt, während Mascha die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkennt und schließlich resigniert den Lehrer Medwedenko heiratet. Nina und Kostja begegnen sich noch einmal, aber immer noch ist sie Trigorin verfallen und wendet sich endgültig von Kostja ab.

Nachdem die ursprünglich für die Rolle der Nina vorgesehene Alina Cojocaru kurzfristig absagte, musste die vordem zweitbesetzte Emilie Mazon innerhalb von gut zehn Tagen den Part der Nina lernen – eine Herausforderung, die die 21-Jährige mit Bravour meisterte. Ihre Nina hat etwas anrührend Mädchenhaft-Jugendliches, das sich im 2. Akt in eine desillusionierte Fraulichkeit wandelt. Emilie Mazons Nina ist eine sehr moderne, emanzipierte Interpretation dieser Figur. Für diese Leistung wurde sie zu Recht nach der Premiere (wie auch Madoka Sugai) zur Solistin ernannt (und Jacopo Belussi, der den Lehrer Medwedenko tanzte, zum Solisten). Georgina Hills – als Gruppentänzerin unversehens mit dieser schwierigen Hauptrolle beauftragt – zeichnete die Nina in der zweiten Besetzung anfangs noch kindlicher und naiver. Vor allem im zweiten Akt entwickelte sie dann aber, inzwischen weniger nervös, mehr Intensität und Selbstsicherheit.

Georgina Hills hatte im Vergleich zu Emilie Mazon die besseren Voraussetzungen – standen ihr doch mit Silvia Azzoni als Arkadina und Karen Azatyan als Trigorin zwei erfahrene Vollblut-Darsteller zur Seite, die mit ihrer Bühnenpräsenz und Dynamik das gesamte Ensemble mitzogen. Wie Azzoni die Allüren der Arkadina ausspielt, wie sie den Pas de deux mit Kostja, ihrem Sohn, zu einer fast inzestuösen Liebeserklärung werden lässt, wie sie aber auch ganz uneitel und nur noch demütig-verzweifelt Trigorins Liebe und Aufmerksamkeit erbettelt, als sie feststellen muss, dass dieser mit Nina angebändelt hat, das ist allerhöchste Tanzkunst. Da sitzt jeder Blick, jede Geste ist bis in die letzte Fingerspitze gekonnt. Azzoni spielt diese Ballerina nicht, sie IST sie. Genau das unterscheidet sie von Anna Laudere, die in der ersten Besetzung die Arkadina gibt. Was bei ihr leider nur zu oft manieriert und gekünstelt erscheint, ist bei Azzoni authentisch. Und genau diese Authentizität, diese persönliche Entäußerung in der Rolle, macht die Faszination von Neumeiers Choreografie aus. Man darf seine Figuren nicht schauspielern, man muss sie von innen heraus sein.

Was für ein Unterschied auch in der Darstellung des Trigorin: Karen Azatyan (2. Besetzung) spielt dessen Machismo dermaßen gekonnt aus, mit einer fulminanten Technik und bravourösem Aplomb, dass Nina gar nicht anders kann, als sich ihm an den Hals zu werfen. Er braucht nur eine Handbewegung zu machen, und schon ist frau ihm rettungslos verfallen. Bei der Interpretation Dario Franconis dagegen fragt man sich ständig, was die arme Nina eigentlich an ihm findet – Kostja ist dagegen so viel attraktiver, spannender, männlicher...

Vor allem, wenn er Marc Jubete heißt (1. Besetzung). Man ist hingerissen von seinem jugendlichen Charme, seiner Kreativität. Jede Regung lässt sich bei Marc Jubete an seinem Gesicht und an seinem Tanz ablesen. Die Tragik des Kostja wird bei ihm auf anrührende Weise transparent: die Verzweiflung darüber, dass seine Mutter und später auch die Gesellschaft den Wert seiner Kunst so gar nicht erkennt; sein grenzenloser Kummer, wenn Nina sich von ihm abwendet; die Leere, wenn er am Schluss die Papiermöwe, die als Leitmotiv durch das ganze Stück fliegt, in kleine Fetzen reißt. Auch Christopher Evans (2. Besetzung) findet sich wunderbar in diese Rolle – sein Kostja ist anfangs noch etwas zurückhaltend, findet dann aber im zweiten Akt sowohl tänzerisch wie darstellerisch zu der Intensität, die diese Rolle verlangt.

Gleichermaßen anrührend sind Carolina Aguero und Xue Lin (2. Besetzung) als Mascha. Ivan Urban (2. Besetzung) ist noch ein wenig mehr als Lloyd Riggins ein hinreißend trottelig-verschlagener Gutsbesitzer Sorin. Lucia Rios brilliert als weiblicher Star der Revue noch um einiges mehr als Florencia Chinellato (1. Besetzung), beide jeweils großartig gepartnert von Florian Pohl. Bei Kostjas Traum-Tänzen stechen Mayo Arii und Aleix Martínez heraus. Thomas Stuhrmann und Jacopo Belussi zeichnen den Lehrer Medwedenko zurückhaltend, aber bestimmend in seinem Werben um Maschas Gunst. Leslie Heylmann und Patrizia Friza sind eine gleichermaßen schlichte und in ihr freudloses Schicksal ergebene Frau des Gutsverwalters. Und das gesamte Corps meistert die Herausforderungen der Ensembles mit ihrem höllischen Tempo vor allem in den Revueszenen mit Bravour.

Markus Lehtinen steuert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg souverän durch alle Untiefen der Musik, Mark Harjes spielt die Klavier-Soli einfühlsam und stilsicher. Die nächste Gelegenheit, „Die Möwe“ zu sehen, gibt es leider erst wieder anlässlich der Hamburger Ballett-Tage am 13. Juli 2017.

 

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