„Woke up Blind“ von Marco Goecke.

„Woke up Blind“ von Marco Goecke.

Die Pioniere der Moderne

Das Nederlands Dans Theater zeigt beim Movimentos-Festival in Wolfsburg seine tänzerische Vielfalt mit vier völlig unterschiedlichen Werken

Neben Klassikern von Paul Lightfoot und Sol Léon stehen zwei deutsche Erstaufführungen auf dem Programm: „Woke up Blind“ von Marco Goecke und „Salt Womb“ von Sharon Eyal und Gai Behar.

Wolfsburg, 30/04/2017

Das Nederlands Dans Theater gehört wohl zu den weltweit angesehensten Kompanien in Sachen zeitgenössischer Tanz. Ein Grund für die internationale Anerkennung liegt in der Vielfalt der innovativen Choreografien – mehr als 600 sind seit Gründung des NDT 1959 entstanden. Zum anderen ist es auch die technische Bandbreite der Tänzerinnen und Tänzer, die es ermöglicht, den immer wieder auf Erneuerung setzenden Stil und die unterschiedlichen Handschriften der Haus- und Gastchoreografen überhaupt erst auf die Bühne zu bringen. Klassisches Ballett, Modern Dance, Postmodern Dance und Experimentelles wird in der Bewegung so selbstverständlich kombiniert, wie es nur ein Ensemble auf technisch höchstem Niveau vermag.

Diese Variantenvielfalt wird auch beim Auftritt des Ensembles beim 15. Movimentos-Festival deutlich. Zum zweiten Mal in der Festival-Geschichte ist das NDT 1 zu Gast in Wolfsburg. Bereits 2010 zeigte die Kompanie ihr Können, damals in Gemeinschaft mit der Nachwuchsgruppe NDT 2. In diesem Jahr tritt allein das NDT 1 auf, mit vier Werken, die unterschiedlicher kaum sein können.

Mit „Safe as Houses“ startet die Leistungsschau der Kompanie aus den Niederlanden. Das Werk des eingespielten Hauschoreografen-Duos Paul Lightfoot (seit 2011 künstlerischer Leiter des NDT) und Sol Léon, ist 2001 entstanden und gehört zu den Klassikern des Repertoires. Zu einer Auswahl von Werken des Komponisten Johann Sebastian Bach und inspiriert vom chinesischen Orakelbuch „I Ging“ werden Gegensätze und Wandlungen tänzerisch umgesetzt. Ausstattung und Kostüme entsprechen der Thematik und sind konsequent in Schwarz und Weiß gehalten. Beherrscht wird die Bühne von einer sich drehenden weißen Wand, hinter der die Tänzer auftauchen und wieder verschwinden, der sie ausweichen und gegen die sie sich stemmen. Das Spiel mit dem rotierenden Hindernis ist gut umgesetzt und bringt Dynamik in die meist ruhigen Bewegungsabfolgen der wechselnden kleinen Soli und Pas de deux. Hier ist viel klassische Technik zu bewundern, in den Hebungen, Drehungen und Sprüngen, kombiniert mit Modern Dance und Anleihen an Breakdance - Ästhetik pur, in Harmonie mit den barocken Klängen. Nur gegen Ende der 30-minütigen Choreografie wird aus der Musik - dem von Knut Nysted bearbeiteten Bach-Choral „Komm, süßer Tod“ - ein undefinierter Klangbrei. Und für den Zuschauer bleibt es ein Rätsel, wie die Tänzer aus dem dumpfen Dröhnen noch die exakten Signale für ihre Tanzschritte herausfiltern können.

Völlig anders „Shutters Shut“, der zweite Klassiker des Duos Lightfoot/Léon, der auf dem surrealistischen Gedicht aus dem Jahre 1924 „If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso“ von Gertrude Stein basiert. Den Rhythmus gibt der von der Dichterin selbst eingesprochene dadaistische Text vor, den ein Tänzerpaar (Sarah Reynolds, Chuck Jones) mit ausdrucksstarker Gestik und Pantomime direkt in Bewegung übersetzt wie zwei Simultandolmetscher. Die Darbietung ist so fesselnd wie temporeich und leider auch kurz. Nicht einmal fünf Minuten dauert der Beweis, dass Tanz eben auch eine eigene Sprache ist.

Und die ist bei Marco Goecke, Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, eine ganz spezielle. In der Deutschlandpremiere von „Woke up Blind“ setzt er menschliche Emotionen in rasend schnelle Bewegungen um, mitunter in gewolltem Kontrast zur melancholischen Musik. Zu zwei Stücken des verstorbenen Sängers Jeff Buckley thematisiert die 2016 entstandene zweigeteilte Choreografie die Empfindungen Verlust und Leidenschaft. Die Umsetzung ist eine körperliche Herausforderung an die Kompanie. Zuckend, zappelnd, und scheinbar außer Kontrolle geraten bewegen sich die Tänzer. Manchmal erfasst der Tremor nur einen Arm, manchmal vibriert der ganze Körper ekstatisch, wie unter Strom oder in einem epileptischen Anfall. Die Leidenschaft wirkt eher wie ein Kampf, zarte Zuneigung hat in dieser Choreografie keinen Platz. Die Sprache Goeckes kann man mögen oder nicht – die Realisierung durch das Ensemble ist genial.

Im Kontrast dazu steht „Salt Womb“. Die Choreografie von Sharon Eyal und Gai Behar, ebenfalls erstmals in Deutschland zu sehen, ist eine ständige, immer wieder leicht abgewandelte Wiederholung der gleichen Abläufe. Zu stampfenden Trommelgeräuschen, Techno-Beats und Salsa-Rhythmen bewegt sich das Ensemble als Ganzes, wie eine Maschine, aus der sich immer wieder einzelne Tänzer herauslösen, ohne die Verbundenheit zu der Gruppe zu verlieren. Leider trägt die interessante Idee nicht über die Spieldauer von annähernd einer halben Stunde, so dass die getanzte Monotonie am Ende zur tatsächlichen Eintönigkeit gerät. Für die Dramaturgie des Abends wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, dieses Stück nicht als Abschluss zu wählen, und dadurch ein dynamischeres Finale zu erzielen.

 

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