„OCD Love“ von Sharon Eyal, Gai Behar / L-E-V

„OCD Love“ von Sharon Eyal, Gai Behar / L-E-V

Dance 2017 ist zu Ende

Pick bloggt über den vorletzten Tag bei DANCE 2017

Besuch bei „#boxtape“ von Peter Trostzmer, der Ausstellung „Tanz in München“, einer Podiumsdiskussion mit den Gründern der Tanztendenz sowie zwei Vorstellungen.

München, 27/05/2017

Ein außerordentlich erfolgreiches Festival, das seine vierzehnjährige Wiederkehr feiern konnte, ging am letzten Sonntag fast ausverkauft zu Ende. Die meisten Vorstellungen fanden im Gasteig Kulturzentrum und in der Muffathalle statt, die irgendwie besser zur Freien Szene passt. Damit will ich das Kulturzentrum Gasteig nicht abwerten, im Gegenteil. Aber der Carl-Orff-Saal ist leider architektonisch vom Erbauer etwas danebengeraten, da die ersten sechs bis acht Reihen nicht ansteigen und das Publikum sich sehr anstrengen muss, um vom Knie an abwärts zu sehen was auf der Bühne passiert. Bei zeitgenössischen Stücken ist das besonders eklatant, da vieles auf dem Knie stattfindet, wenn nicht sogar total horizontal. Es wäre sehr erstrebenswert, wenn bei der anstehenden Generalsanierung (2020?) dieser Fehler behoben werden könnte. Auch fehlt, was ich aus Erfahrung weiß, eine Hinter- oder Seitenbühne, wenn man nicht nur Musik machen will. (Wie jeder weiß: Carl Orff war sehr damit beschäftigt vor allem Theatermusik zu schreiben).

Im offenen Innenhof des Gasteig Kulturzentrums war eine hinreißende Skulptur aus Klebeband zu sehen, die sogar – und das ist wirklich außergewöhnlich für ein Kunstwerk – auch von Kindern als Klettergerüst genutzt werden durfte mit all ihren Löchern und Nestern. Es handelte sich dabei um „#boxtape“ von Peter Trostzmer und seinen Kollegen aus Montreal, die den zahlreichen Passanten ihr Kunstwerk auch erklärten und sie einluden einzusteigen und mitzubauen.

Im Foyer des Orff-Saals fand eine kleine Ausstellung zum zeitgenössischen Tanz der Freien Szene in München statt, die zwar nicht sehr umfangreich war, aber schöne Erinnerungen wachwerden ließ, besonders auch durch Video-Interviews mit einzelnen Protagonistinnen der Gründerzeit vor über 30 Jahren. Denn damals gab es schon so illustre Namen wie Birgitta Trommler, die leider nicht anwesend, aber im filmischen Interview zu sehen war. Oder die Schwedin Jessica Iwanson, die in frühen Jahren eine Etage am Gärtnerplatz gemietet hatte, wo sie unterrichtete und für ihre Choreografien die Proben abhielt. Wann die „Negerhalle“ von Bonger Voges erfunden wurde, habe ich nicht mitgekriegt, aber es gab mal ein Projekt, durch das ich mit ihm in Kontakt kam, als ich am Gärtnerplatztheater versuchte – wohl etwas zu früh – mit der Freien Szene in Berührung zu kommen.

Im Zusammenhang mit der Freien Szene in München steht die Gründung der Tanzräume in der Lindwurmstraße, die Tanztendenz, die es glücklicherweise heute noch gibt. Der große August Everding lud lange davor zu einem Symposium ein, ins damals geschlossene Prinzregententheater, mit dem Titel „Ist München eine Tanzstadt?“ Er wollte über die Tanzwelt Druck machen, dieses Theater, das nach dem Krieg zuerst als Heimat der Staatsoper genutzt wurde, als Tanzhaus zu etablieren. (Und er hatte gleichzeitig die Idee, Pina Bausch als Choreografin für das Prinze nach München zu locken, die aber lieber in Wuppertal blieb).

Als GründerInnen der Tanztendenz hatten Nina Hümpel, die Kuratorin des Festivals, Micha Purucker, Angela Dauber, Jessica Iwanson und Angelika Meindl ins obere Foyer des Carl-Orff-Saals zu einem „Get Together“ eingeladen. Mit Moderatorin Katja Schneider plauderten sie über die damalige und die heutige Situation der Freien Szene und diskutierten die Entstehung und wo denn noch immer Not am Mann sei. Natürlich durfte da eine Schlüsselfigur nicht fehlen, nämlich Brigitte von Welser, die zuerst im Referat für Kultur arbeitete und später dem Gasteig vorstand und die nun im Ruhestand nach wie vor helfend Kontakte herstellen kann. Mit dabei waren auch die für die Münchner Szene wichtigen Tanzmanager Stefan Sixt und Walter Heun. Daniela Rippl aus dem Kulturreferat unterstrich, wie sehr die Mittel für Tanz von Seiten der Stadt angehoben wurden und werden.

Die Zusammenarbeit dieser Gründerväter und -mütter funktioniert bis heute, also noch 30 Jahre nach Öffnung der Tanztendenz, wobei allerdings zu Anfang auch eine gemeinsame Kompanie gegründet wurde, bei der sich die Choreografen aber schwer taten mit denselben Tänzern zu arbeiten. Dieses Problem wurde auf gütliche Weise gelöst, sprich die Kompanie wurde nach einem Jahr aufgelöst. Das alles spricht doch für die gute Atmosphäre in Münchens Mauern und, wenn ich das hier laut sagen darf: Ja, München ist inzwischen eine Tanzstadt!

Bei Sharon Eyal und ihrem Stück mit dem Titel „OCD Love“ gab es ebenfalls kein Problem mit ihren großartigen Tänzern, außer, dass man nach den Interpreten auf der Rückseite des Programmzettels mit der Lupe suchen muss. Sind die Tänzer so unwichtig? Zu Beginn des Abends gab die wohl wichtigste Tänzerin ein langes Solo, das sie mit solcher Hingabe in gedehnter Zeitlupe tanzte, dass ich sogar zwischendurch an Pina Bausch als Interpretin denken musste. Dann erschien ein Mann aus der Gasse und machte einen weiten Weg um sie, ebenfalls sehr langsam, aber ohne die Tänzerin wahrzunehmen, obwohl sie durchaus auf ihn einging. Er bleibt wohl von Natur aus für sich und ändert diese nicht vorhandene Ausstrahlung während des gesamten Stücks nicht, auch wenn sich andere Situationen mit anderen Partnern ergeben.

Das scheint mir aber von der Choreografin so gewollt zu sein. In dem Stück über krankhafte Liebesstörungen gibt es im letzten Drittel den Auftritt eines nicht mehr ganz jungen Tänzers, der eine (fast) schwule Rolle annimmt. Im Gegensatz zu den anderen TänzerInnen, alle in ähnlichen schwarzen Oberteilen, wenn auch jedes anders geschnitten, mit oder ohne Ärmel, mit kurzen oder halblangen Beintrikots, trägt er einen String mit herausforderndem Gesäß. Soweit, so gut, nur die Grundgedanken dieses Stückes konnte ich trotz edler Choreografie nicht ganz nachvollziehen. Macht nichts, es hat mir gefallen, und meinen Nachbarn ebenfalls.

In der Muffathalle wartete eine Uraufführung mit etwas ganz Besonderem auf, mit „Some Hope for the Bastards“ vom „Choreograph Canadien de Montreal“ Frédérick Gravel und seiner sehr unterschiedlichen Truppe, bestehend aus neun TänzerInnen, alle mit starken Charakteren, die sie mit Spielfreude von Anfang an einbringen konnten. Schon vor Einsetzen der Musik eines Rock-Trios waren sie damit beschäftigt, sich Bier aus der Flasche hinter die nicht vorhandene Binde zu gießen und sich bei ausufernder Trunkenheit zu diesem oder jenem Anlass zuckend auszutoben. Es hielt sich alles aber doch in Grenzen und getanzt wurde tatsächlich auch mal paarweise, aber eben trunken und nicht übermäßig anregend.

Nein, eingefallen ist dem Choreografen nicht viel und von einer Führung seiner Solisten war wenig zu spüren, mit Ausnahme des langhaarigen großartigen Tänzers Francis Ducharme, der sich total verausgaben durfte und wollte. Die Tänzer verließen die „Party“ nach einer recht langen Stunde. Man konnte glauben, es sei das Ende. War es leider nicht, denn die Musiker mitsamt dem Choreografen, der am liebsten auch noch eine Karriere als singender Gitarrist machen wollte, rissen das ermüdete Publikum wieder hoch. Eine der Tänzerinnen spulte ein ziemlich angestrengtes Solo ab, und schließlich war die ganze Mannschaft wieder auf der Fläche für ein ausgedehntes Nichts, das nicht unbedingt in Montreal, sondern auch in Bielefeld, Birmingham oder Québec Ville stattfinden könnte. Diese nihilistische Atmosphäre kam schon in den 1950er Jahren aus Paris, man hatte damit damals aber mehr zu sagen. Das ist das Schicksal, wenn man Uraufführungen macht. Aber beim Publikum kam das Stück – nicht nur aus Höflichkeit – gut an. Es steht für die berechtigte, ja notwendige Risikobereitschaft eines Festivals Uraufführungen und riskante Produktionen zu zeigen und das ist voll gelungen!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern