„die einen, die anderen“ von Toula Limnaios. Tanz: Joselma Soares, Marconi Araújo.

„die einen, die anderen“ von Toula Limnaios. Tanz: Joselma Soares, Marconi Araújo.

„die einen, die anderen“

Eine internationale Kooperation cie. toula limnaios & cia. gira dança (Brasilien) in der HALLE Tanzbühne Berlin

Ein komplexes Tanzstück, das die Widersprüche in und um uns nicht banalisiert, sondern emotionsgeladen nach dem sucht, was jeden zum Homo sapiens macht.

Berlin, 03/06/2017

Stehende Ovationen für die vierzehn Tänzerinnen und Tänzer aus Berlin und Natal/Brasilien mit dem Inszenierungsteam um Choreografin Toula Limnaios, die sich in ihrer ersten gemeinsamen Produktion mit einem aufsehenerregenden tänzerischen Diskurs über reale und utopische Körperbilder beidseits des Atlantiks als universell präsentieren. „die einen, die anderen“ thematisiert, verstärkt durch die bewusste Inklusion von vier behinderten Protagonisten, die Suche jedes Menschen nach eigener Entfaltung und sozialem Miteinander.

Die Tanzkompanie der griechischen Choreografin Toula Limnaios tanzt im 21. Jahr ihres Bestehens erfolgreich in Berlin, in Deutschland und Europa. Als innovative Vertreterin der deutschen zeitgenössischen Tanzszene tourt sie weltweit, unterstützt vom Goethe Institut und dem Auswärtigen Amt; sechsmal gastierten die Berliner in Brasilien. Bei gemeinsamen Workshops begegneten sie 2014 der brasilianischen Kompanie. Gira Dança ist ein 2005 in Natal, Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande, von Anderson Leão und Roberto Morais gegründetes Ensemble für zeitgenössischen Tanz mit behinderten und nicht behinderten Menschen. Das neue Tanzstück „die einen, die anderen“ wurde in zwei Monaten gemeinsamer Recherche in Nordostbrasilien erarbeitet.

Was an diesem Abend in der Halle Tanzbühne verhandelt wird, sind in- und übereinander gelagerte bildmächtige Annäherungen an den menschlichen Körper als Ort des Begehrens und der utopischen Sehnsüchte, die durch die Zwänge der Realität fortwährende Wandlung erfahren. Der Zweiteiler fokussiert jeweils die Protagonisten einer Kompanie in der realen Bühnenaktion, wobei die Abwesenden stets per Videoprojektion - aufregend gedreht und kontrapunktisch montiert von Giacomo Corvaia - präsent sind. Vor Bildern einer Industriebrache tastet ein Wesen im Pelz affenartig auf den Handballen, Buntgekleidete stehen im Müll, davor tanzt Daeho Lees muskulöser Körper im Licht. Faszination der Schönheit. Inspiriert von Michel Foucaults Radiovorträgen „Der utopische Körper/Die Heterotopien“ (1966) hinterfragt das Tanzstück betörend-verstörende Körperbilder in divergierenden Lebensräumen. Ein Tanzstück über das, was alle Menschen mit und ohne Behinderung einengt, begrenzt, erniedrigt, beglückt.

Fünf greifen nach den Brüsten einer Frau, Spiel und Bedrängnis, die Gruppe zerfällt in fragmentierte Individuen, während sich das brasilianische Septett im Video eng umschlungen über dem Rollstuhlfahrer auf einem Abrissdach türmt. In kontrastierenden Parallelaktionen, teils zeitversetzt und mit völlig unerwarteten emotionalen Umschwüngen, kreiert Toula Limnaios mehrfach hochexplosive Crescendi menschlicher Kraftentladung. Die Berliner verausgaben sich als Selfi-Hipster-Septett im Leerlauf, während im Film eine Kleinwüchsige wütend Lehm schleudert, Dreck frisst. Die Selbstbespieglung und Vereinzelung auf der Bühne erweitert der Kamerablick: Junge Brasilianer versuchen die isolierte Enge in Abrissmauern zu überwinden. Körper als gnadenlose Topi! Göttergleich und fratzenhaft. Hündische Paare zerfleischen einander und schreddern Mahlers Adagetto. Ralf R. Ollertz komponiert sich aufbäumende oder meditativ-surreale Klangwelten. Nur zum berührenden Liebesduett der korpulent-schönen Joselma Soares mit dem Mann im Rollstuhl erklingen Originaltöne von Bach. Formvollendet sitzt ein Paar in Rückenansicht. Sie wenden sich um, kurzzeitig irritiert die Beinbehinderung des Mannes, im Yogasitz zum Publikum gewinnen Karolyna Wyrwal und Marconi Araújo ungeteilte (Film)-Souveränität.

Choreografische Sequenzen der Berliner sind im realen Part der Brasilianer gedoppelt und um neue Bewegungsmuster erweitert. Der Mensch als Dompteur und als dressierter Affe, der Mann im Rollstuhl kippt auf die Bühnenfläche, kreiselt am Boden, erdrückt einen Mann, wird von diesem auf seinen deformierten Beinen jedoch wie ein Fakir gehoben; im Film sind Hironori Sugata und Marconi Araújo zum aufrechten Gang fest aneinander geschnallt. Die kleinwüchsige Schönheit Jania Santos wird zur weiblichen Bestie, mit enormer Power treibt sie das Wutquintett an und attackiert eine gefesselte Frau, die sie von sich stößt. Das brasilianische Septett zelebriert Posen sozialen Zusammenhalts. Auf der großen Leinwand marschieren die vierzehn Protagonisten eng aneinandergeschmiegt mit lachendem Gesicht am sonnigen Meer; auf der dunklen Bühne strampelt, aufgespießt zwischen zwei Beinen, die kleinwüchsige Frau und kommt nicht voran.

„die einen, die anderen“ - ein komplexes Tanzstück, das die Widersprüche in und um uns nicht banalisiert, sondern emotionsgeladen nach dem sucht, was jeden zum Homo sapiens werden lässt.

Weitere Aufführungen:
3. + 4. Juni, 8. bis 11. + 15.bis 18. Juni 2017

 

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