„Der Tod und das Mädchen“ von Stephan Thoss. Tanz: Chiara Dal Borgo, Ayumi Sagawa, Silvia Cassata, Helga Kristin Ingolfsdottir

„Der Tod und das Mädchen“ von Stephan Thoss. Tanz: Chiara Dal Borgo, Ayumi Sagawa, Silvia Cassata, Helga Kristin Ingolfsdottir

Tod – der Liebe Bruder

Zum neuen Tanzstück „Der Tod und das Mädchen“ von Stephan Thoss in Mannheim

Stephan Thoss scheint mit Beginn seiner zweiten Spielzeit fest am Nationaltheater angekommen zu sein, sein 16-köpfiges Ensemble ist zusammengewachsen und mehr und mehr auf seine spezielle Bewegungssprache abgestimmt.

Mannheim, 18/11/2017

Stephan Thoss hat schon viele Male unter Beweis gestellt, dass er bekannte Themen ganz neu und anders denken kann: mit viel psychologischem Gespür und einer Bewegungssprache, die an beste deutsche Ausdruckstanz-Tradition anknüpft. Wenn dieser Choreograf eine Premiere unter dem Titel „Der Tod und das Mädchen“ ankündigt, darf man eines auf keinen Fall erwarten: ein eingängiges „Abfeiern“ des berühmten Streichquartetts von Franz Schubert. Tatsächlich ist das Musikkonzept des neuen Mannheimer Tanzabends so divers, dass die Töne aus der Konserve kommen, auch wenn die Aufführung im Opernhaus stattfindet. Aus dem titelgebenden Musikstück erklingen dann auch nur zwei Sätze – gemischt mit weiteren Schubert-Auszügen und Kompositionen von Ezio Bosso, Thomas Larcher und Philip Glass. Auch Bühne, Kostüme und Beleuchtungskonzept hat Thoss selbst besorgt und sein Thema deutlich aktualisiert.

Stephan Thoss erzählt die Geschichte von der Begegnung zwischen dem Mädchen und dem Tod nicht als romantische Episode, sondern als universelle Begebenheit. Ein behütetes Mädchen aus heiler Familie ist gefangen im emotionalen Widerspruch der Pubertät: dem gleichzeitigen Ringen um Aufmerksamkeit und Abnabelung (eine Paraderolle für Chiara Dal Borgo). Dass die Eltern sie in die Obhut einer Tante übergeben, empfindet sie als Zurückweisung – so erliegt sie leicht dem Werben eines älteren Jungen aus einer Gang. Angespornt von der allseitigen Zuwendung gibt sie Vorsicht und Zurückhaltung auf und lässt sich mit vollem Risiko in die Arme der Gruppenmitglieder fallen. Der Versuch, die Schwerkraft zu ignorieren, endet mit einem schweren Sturz. Verletzt bleibt das Mädchen am Boden zurück, während sich die alle anderen schuldbewusst zurückziehen. Wer ihr jetzt plötzlich behutsam zur Seite steht, ist der Tod, dem Jamal Rashan Callender eine Aura von unerbittlicher Zärtlichkeit verleiht.

Im zweiten Teil ist das Mädchen schon in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod angekommen, wo alle übrigen Beteiligten - die hilflosen, mit sich selbst beschäftigten Eltern (Emma Kate Tilson und Joris Bergmans), die sittenstrenge Tante (Julia Headley) und der Junge mit dem schlechten Gewissen (Vitek Kořinek) – sie nicht mehr erreichen können. Einzig der Tod und eine Heerschar schwarzer Engel begleiten und stützen sie. So wie sich die vorherrschenden Farben auf der Bühne verdüstern, wendet sich der Blick von der Zukunft in die Vergangenheit. Thoss lässt die Emotionen aus den verschiedenen Lebensaltern des Mädchens in Gestalt von Doubles noch einmal Revue passieren. In der Absolutheit des ersten Liebesgefühls liegt der Tod schon nahe. Er ist, ganz anders als im Gedicht von Matthias Claudius, das dem Schubert-Streichquartett zugrunde liegt, kein „wilder Knochenmann“. Nein, Thoss zeichnet ihn sanft und stark zugleich, einfühlsam und verlässlich – ein Bruder der Liebe, kein Feind. Am Ende ist nicht mehr zu unterscheiden, ob er das Mädchen in seine Arme nimmt oder sie sich hineinfallen lässt.

Stephan Thoss scheint mit Beginn seiner zweiten Spielzeit fest am Nationaltheater angekommen zu sein, sein 16-köpfiges Ensemble ist zusammengewachsen und mehr und mehr auf seine spezielle Bewegungssprache abgestimmt: große Zustimmung vom Premierenpublikum.

 

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