Bewegungserkundungen

Das diesjährige Spielart-Festival zeigte sechs Tanzperformances

Die Kammerspiele-Produktionen „Versuch über das Turnen“ und „Princess“ haben etwas gemeinsam: Sie sind nicht nur Tanzperformances, sondern beschäftigen sich auch damit wie und weshalb sich bestimmte Bewegungen auf eine Nation auswirken.

München, 20/11/2017

HAUPTAKTION mit „Versuch über das Turnen“ und Eisa Jocson in „Princess“ in München. Die beiden Kammerspiel-Produktionen beim diesjährigen Spielart-Festival haben etwas gemeinsam: Sie sind nicht nur Tanzperformances, sondern beschäftigen sich auch damit wie und weshalb sich bestimmte Bewegungen auf eine Nation auswirken.

Die Zuschauer entledigen sich ihrer Schuhe, die PerformerInnen gleich ihrer gesamten Kleidung, um sich in hautenge Turnoutfits zu zwängen. Jetzt sind sie alle gleich, uniform und das Turnen kann beginnen. Das kennen die meisten ja nur noch als wöchentliche Qual aus der Grundschule. Doch die künstlerische Forschungstruppe HAUPTAKTION nahm sich in ihrem „Versuch über das Turnen“ genau diesem Thema an. Im Rahmen des Spielart-Festivals hatte die Essay-Performance Premiere und fand, nicht wie zu erwarten im Theater, sondern in der städtischen Turnhalle in der Dachauer Straße statt. Es sollte nicht auf der Bühne geturnt, sondern in der Turnhalle künstlerisch etwas versucht werden.

„Versuch über das Turnen“ ist eine Auseinanderseztung mit dem urdeutschen und nationsstiftenden Turnen, mit körperlicher Ertüchtigung, fitten Körpern, festem Fleisch, ein Versuch von hochmotivierten, ganz unterschiedlichen Menschen. Es geht um Europa im weiteren Sinne und um Gruppenbildung im engeren. Die Konstruktion von Gemeinschaft versucht HAUPTAKTION durch die Rekonstruktion von Gruppenturnen. Angefangen beim Turn- und Sportfest der DDR 1987 in Leipzig, über Frauenturnen 1849 in Frankfurt, bis hin zur ersten Demonstration der Deutschen Turnkunst 1811 in Berlin. Erfunden von Turnvater Jahn, der eine ordentliche, deutsche Nation erturnen wollte.

Doch wie konnten HAUPTAKTION diese teilweise über zweihundert Jahre alten Choreografien und Bewegungsabfolgen einstudieren? Sie holten sich Hilfe von Wissenschaftlern, arbeiteten mit Notizen, Fotos und konnten ab der Geburtsstunde des Films um 1900 auch auf dieses Material zurückgreifen. Angegleitet wurden die acht PerformerInnen – Jonaid Kodabahkshi, Dennis Kopp, Jasmina Rezig, Hannah Saar, Isabel Schwenk, Julian Warner und Oliver Zahn – von ihrer Kollegin Quindell Orton. Sie ist Tänzerin und als solche für diesen Job prädestiniert. Sie ist es auch, die die Choreografien fehlerfrei und grazil darbietet und so den turnerischen Versuch tatsächlich tänzerisch aussehen lässt.

Und der „Versuch über das Turnen“ bleibt ein Versuch. Acht TurnerInnen sind ausreichend, um die Wirkung dieser ornamentalen Massenveranstaltungen ansatzweise nachzustellen, doch die größte Wirkung erzielen die imposanten Fotografien der jeweiligen Turnveranstaltungen, die auf eine riesige Leinwand hinter ihnen projiziert werden. Ebenso wie die Textpassagen von Denkern, Turnern oder Kritikern aus der jeweiligen Zeit. Beispielsweise die Äußerungen der Deutschen über brasilianische Kolonien. Das Turnen sollte den Einheimischen dort eingetrichtert werden, doch etwas aus dem besetzten Land mitnehmen und in den eigenen Kulturschatz aufnehmen wollte natürlich niemand.

Das ist genau der Punkt, den die philippinische Tänzerin und Choreografin Eisa Jocson in „Princess“ interessiert. Bereits im Oktober 2016 war sie bei der „Greatest Show on Earth“ in den Kammerspielen zu Gast und präsentierte dort eine kurze Szene zu Disney’s Schneewittchen. Mittlerweile hat sie eine Trilogie („HAPPYLAND“) zum Thema der amerikanischen Märchenfiguren erarbeitet, dessen erster Teil „Princess“ im Februar im Mousonturm in Frankfurt Premiere feierte und nun auch beim SPIELART in München gastierte.

Was hat nun Disney mit den Philippinen zu tun? Eisa Jocson ist mit Schneewittchen, Dornröschen und Co. aufgewachsen, nicht den Grimm’schen Figuren, sondern den bunten von Disney. Die mit den hohen Schuhen und den noch höheren Stimmen. Hoch ist der Einfluss Amerikas auf den ehemaligen Kolonie-Inselstaat. Und das benachbarte Disneyland Hongkong kauft sich philippinsche, klassisch ausgebildete BalletttänzerInnen ein, um Randfiguren in den Unterhaltungsparks darzustellen. Die TänzerInnen tun das des Geldes wegen, mit ihrer Kunst Ballett verdienen sie keines. Und so geben sie tagein tagaus die fröhlichen Wesen der Märchenwelt, um den Schein zu wahren.

Und hier beginnt „Princess“: Mit zwei Schneewittchen in ihren blau-gelben Kostümen, den Haaren schwarz wie Ebenholz und den Lippen so rot wie Blut. Die Haut natürlich nicht weiß wie Elfenbein, deswegen werden sie nur in Nebenrollen eingesetzt. Eisa Jocson und Russ Ligtas (auch männliche Balletttänzer müssen sich im Disneyland Hongkong zum Affen machen) erwecken gemeinsam auf der Bühne die Figur Schneewittchen ganz langsam zum Leben. Orientiert haben sie sich dabei natürlich an der Figur aus dem Disney-Film von 1937. Der Film, der zu den erfolgreichsten überhaupt gehört, prägte den Blick auf und das Bild von Schneewittchen: hübsch, jung, dümmlich und den sieben Zwergen und dem Prinzen untergeben. Die Bewegungs- und Sprachbasis dieser Kunstfigur sezieren Eisa Jocson und Russ Ligtas bis ins kleinste Detail, um daraus etwas Eigenes zu formen und in Szene zu setzen. Nervtötend schwingt diese Aneignung hin und her, auf weißem Papier, das flächendeckend auf der Bühne ausgelegt ist und eine leere, buchstäbliche Leinwand darstellt. Beschrieben wird sie mit Gelächter, Hicksen und überspitzter, süßer Weiblichkeit.

Nervtötend ist die Interaktion der beiden Schneewittchen mit dem Publikum, wodurch die Absurdität der Arbeit der TänzerInnen demonstriert wird, die sich und den Parkbesuchern den lieben langen Tag eine heile bunte Welt vorgaukeln müssen, die es so nie gegeben hat und nie geben wird. Sie sind Sklaven Hollywoods, das trotz schlimmster Skandale nichts von seinem Einfluss einbüßen wird. Dort liegt zu viel Geld und Macht, zu viele sind davon abhängig.

„Alle meine Arbeiten treffen sich im Thema des philippinischen Körpers und seines Arbeitskapitals sowohl in der lokalen als auch in der globalen Unterhaltungsindustrie“, sagt Jocson selbst. Und das ist im Fall von „Princess“ für den Zuschauer anstrengend, weil nervtötend. Doch die Wahrheit ist ja meistens das, was niemand sehen oder hören will.

 

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