„Onegin” von Von John Cranko, Tanz: Sae Eun Park und Hugo Marchand

Jugendliche Leidenschaft in „Onegin“

Neubesetzungen in John Crankos Ballett an der Pariser Oper

„Onegin“ vereinte fünf Rollendebüts der „Millepied-Generation“, also Tänzer, die vom letzten Ballettdirektor Benjamin Millepied entdeckt und gefördert wurden. Selten sah man einen so jungendlichen, verzweifelt-leidenschaftlichen Onegin wie den gerade 24-jährigen Hugo Marchand.

Paris, 26/02/2018

Der Liebe sind alle Lebensalter ergeben;

aber jungen, jungfräulichen Herzen

tun ihre Erschütterungen wohl

wie Frühlingsstürme den Feldern.

Am Regen der Leidenschaft erfrischen

und erneuern sie sich und reifen,

und das mächtige Leben schenkt

sowohl üppige Blüte als auch süße Frucht.

Doch im späten und unfruchtbaren Alter,

an der Wende unserer Jahre

ist die Spur einer toten Leidenschaft traurig:

Die Stürme eines kalten Herbstes

verwandeln so die Wiesen in einen Sumpf

und entblößen den Wald ringsum. (8, XXIX)

 

So schrieb Puschkin 1833 in „Onegin“, und John Cranko nahm das Bild 1965 in seinem Ballett „Onegin“ auf. Wirkt Tatjana bei ihrem ersten Pas de deux mit Onegin im Garten noch wie eine zarte Blüte, die sich den ersten Sonnenstrahlen der Liebe öffnet, so ist bei ihrer letzten Begegnung im dritten Akt die Herbststimmung nicht zu übersehen: Sie zeigt sich unter anderem an Onegins ergrauendem Haar und Tatjanas laubbraunem Kleid. Die aufstrebenden Hebungen und Würfe des Traum-Pas de deux spiegeln sich in den schweren, fallenden Bewegungen der Abschiedsszene.

Trotz grauer Haarsträhnen war von herbstlicher Melancholie in der jüngsten Besetzung an der Pariser Oper kaum etwas zu spüren. Sie vereinte fünf Rollendebüts der „Millepied-Generation“, also Tänzer, die vom letzten Ballettdirektor Benjamin Millepied entdeckt und gefördert wurden. Selten sah man einen so jungendlichen, verzweifelt-leidenschaftlichen Onegin wie den gerade 24-jährigen Hugo Marchand. Von der Gesetztheit mittleren Alters fand man weder bei ihm noch bei seiner Tatjana, der jungen Koreanerin Sae Eun Park, eine Spur, und ihre letzte Begegnung wurde beinahe zu einem Kampf, in dem Marchand Körper und Seele in die Waagschale warf, um die von ihm zuvor verschmähte Tatjana zurückzugewinnen.

Marchand ist ein glaubhafter, charismatischer Onegin, der im ersten Akt deutlich weltmüder wirkt als im dritten: Er mischt von Anfang an die Blasiertheit des homme du monde, der sich der ländlichen Gesellschaft überlegen glaubt, mit einem gewissen freundlichen Interesse an Tatjana, das ihre plötzlich erwachende Leidenschaft für den mysteriösen, eleganten Fremden glaubwürdig erscheinen lässt. Im Spiegel-Pas de deux erträumt sie sich einen hingebungsvollen, glücklich strahlenden Partner, der sie ganz anders als der reale Onegin des ersten Aktes keine Sekunde aus den vor Liebe schmelzenden Augen lässt. Auch Park, die bei ihrer ersten Begegnung so verinnerlicht wirkt, dass man es Onegin kaum verdenken kann, dass er ihre Besonderheit nicht erkennt, lässt sich hier mehr gehen und deutet bereits die sich zeitweilig in ihrer Leidenschaft verlierende Tatjana des dritten Aktes an.

Die Besetzung Park-Marchand lässt die Parallelen zwischen Schluss- und Spiegel-Pas de deux besonders deutlich hervortreten. „Das Glück war möglich“, erklärt Puschkins Tatjana ihrem Onegin, und der letzte Pas de deux des kaum gealterten Paares erscheint hier wie eine verzweifelte Realisierung der von Tatjana erträumten leidenschaftlichen Liebe – nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Leitmotive in Crankos Choreografie und Tschaikowskys Musik, welche die beiden Szenen verknüpfen. Da bedarf es starker Prinzipien und eines so liebe- und würdevollen Gremin wie Jérémy-Loup Quer, damit Tatjana Onegins äußerst stürmischem Werben nicht erliegt.

Marchands Onegin lässt nicht den geringsten Zweifel daran, dass er im dritten Akt vollkommen bekehrt ist: Die Reue über sein vergeudetes Leben offenbart sich bereits nach der Visionsszene, in der er die Frauen seines Lebens Revue passieren sieht. Als er Tatjana erblickt, scheint er vom Blitz getroffen wie Romeo bei seiner ersten Begegnung mit Julia beim Ball. Der verzweifelte Blick, mit der er jeder ihrer Bewegungen folgt, ähnelt dem seines Des Grieux in MacMillans „Manon“, als er seine Geliebte in den Armen eines anderen sieht. Auch Tatjana und Gremin wirken in ihrem Pas de deux kaum von den Jahren beschwert, sondern wie ein frisch verheiratetes, harmonisches Paar von ruhigerem Temperament.

Eine weitere Art der Beziehung porträtiert Cranko in Olga und Lenski, die an diesem Abend sehr überzeugend von den jungen Etoiles Léonore Baulac und Germain Louvet interpretiert wurden. Die Zerstörung ihrer unbeschwerten Liebe im ersten Akt wirkt besonders sinnlos, da sich weder Olga noch Onegin darüber bewusst sind, wie tödlich verletzend ihr gedankenloses Schäkern für Lenski ist. Der jungenhafte Onegin, sehr gereizt über die peinliche Szene mit Tatjana, scheint seinem Freund einen Streich spielen zu wollen – vor jeder Provokation blickt er in seine Richtung, und er lacht ihm mehrmals frech ins Gesicht. So wenig Interesse Olga und Onegin aneinander haben, so aufrichtig scheint die Liebe zwischen Olga und Lenski – er zieht sie nach seinem berührenden Solo, in dem er Abschied vom Leben nimmt, zu einem letzten leidenschaftlichen Kuss an sich, und ihr Schmerz bei seinem Tod erinnert an Julia in der Gruft. Auch Onegins Verzweiflung über seine Tat unterstreicht die Absurdität der Tragödie.

Alle fünf Tänzer werden gewiss in den nächsten Jahren in ihre Rollen wachsen und die Schwierigkeiten der Choreografie noch souveräner meistern. Doch gaben sie schon jetzt eine erfrischende, eigene Interpretation der Figuren, die einmal mehr zeigte, welche Vielfalt trotz strenger Vorgaben in Crankos sich ständig erneuerndem Ballett möglich ist. Die Begeisterung des Publikums ließ darauf schließen, dass Crankos dramaturgischem Meisterwerk wahrscheinlich noch viele erfolgreiche Vorstellungen in diesem Theater bevorstehen.

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