„Begone, Dull care“ von Sara Coffield, Tanz: Frederike Midderhoff und Ensemble

Sieben Kostbarkeiten auf viel zu engem Raum

Neue Arbeiten der „Jungen Choreographen“ des Hamburg Ballett in der Opera stabile

Choreografiert von Tänzer*innen aus den Reihen des Hamburg Ballett, getanzt von ihren Kolleg*innen, entstehen hier berührende Stücke, die von Leben und Sterben erzählen.

Hamburg, 12/03/2018

Wie schon im Vorjahr präsentierten auch dieses Jahr Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett in vier Vorstellungen „Junge Choreographen“ eigene Arbeiten. Dieses Jahr waren allerdings „nur“ sieben Stücke am Start, während es in den Vorjahren immer 17-20 waren. Den Werken hat das gut getan – es war mehr Konzentration auf das jeweilige Stück möglich, es gab mehr Zeit, und so konnten die Kreationen – wie immer getanzt von den eigenen Kolleg*innen – stärker ausgearbeitet werden.

Der Einstieg war überaus charmant und von heiterer Unbeschwertheit: Sara Coffield, Gruppentänzerin in der Kompanie, hatte zu „Songs from Friday Afternoon“ von Benjamin Britten mit „Begone, Dull Care“ eine leichtfüßige, zärtliche Collage für drei Paare auf die Bühne getupft – mit raffinierten Schrittfolgen und sorgfältig komponierten Ensembles. Da wurde jegliche Langeweile sofort hinweggefegt! Mit „The Holy Sinner“ von Kristina Borbélyová folgte dann ein starker Kontrast: dunkel, bedrohlich und aggressiv schon der Beginn mit einem Solo von Maria Tolstunova, die zu Trommelmusik im Kreis rennt und sich selbst geißelt. Ein junger Mann in grauem Anzug (Nicolas Gläsmann) kommt hinzu und versucht, ihr zu helfen, aber sie schlägt auch ihn, während im Hintergrund ein Dämon (Pascal Schmidt) in lilafarbenem langen Rock sich eine Zigarette anzündet und mit diabolischer Miene dem Treiben zuschaut. Ein zweiter Mann in weißer Hose (Jacopo Bellussi) stellt sich ihm in einem furiosen Pas de deux entgegen, wird aber selbst mit einem schwarzen Kreuz auf dem Rücken gezeichnet, und auch ein engelgleiches Wesen ganz in Nude (Giorgia Giani) vermag ihn nicht zu retten. Zum Schluss sitzt er vor einem Spiegel und schreibt „Sinner“ darauf („Sünder“). Es ist ein Stück über die Unmöglichkeit, sich nicht zu versündigen – voller raffinierter tänzerischer Details, die von allen Protagonisten aufs Feinste ausgekostet werden.

Vor der Pause dann noch „Aequivocus“ von Marcelino Libao. Es beginnt mit viel Bühnennebel, aus dem sich fünf Frauen und fünf Männer in Mänteln herausschälen, hinfallen, wieder verschwinden. Eine Frau (Lucia Rios) bleibt und beginnt ein kraftvolles Solo, das in einen nicht minder furiosen Pas de deux für zwei Männer (Borja Bermudez, Mariá Huguet) in langen lilafarbenen Röcken mündet, bis zwei Frauen (Giorgia Giani, Madoka Sugai) in Schwarz übernehmen, gefolgt von einem Paar (Lucia Rios, Konstantin Tselikov). Plötzlich ertönt Geschrei, und das Ganze mündet in ein wildes ,gemeinsames Fest der Lebensfreude, bis am Schluss das Licht erlöscht und sich zwei Frauen diametral gegenüberstehen, die eine zurückschauend, die andere sie streng fixierend. Marcelino Libao ist hier ein eindringliches Plädoyer für mehr zwischenmenschliche Toleranz gelungen.

Den zweiten Teil der Vorstellung eröffnete Florian Pohl mit einem Pas de deux für Lucia Rios und sich selbst: „el la“ zu Filmmusik von Nathan Barr. Ein Kammerstück für zwei virtuose Tänzer, ein einziges fließendes Umeinander und Miteinander. Pascal Schmidt, in Nepal geboren und von 2014-16 im Bundesjugendballett, danach als Gruppentänzer im Hamburg Ballett aktiv, kreierte mit „Madeleine“ eine tröstliche Totenmesse zu Musik aus dem Requiem von Gabriel Fauré. Sie beginnt mit zwei Frauen in weißer Bluse und schwarzem Rock (Mengting You, Olivia Betteridge), die miteinander tanzen, bis eine plötzlich zu Boden fällt – sie stirbt. Drei Engelwesen in weißen, langärmeligen Hemden (Sara Coffield, Daniel Brasil, Graeme Fuhrmann) erscheinen und nehmen sich der Toten an und sie in ihre Mitte auf. Die Weiterlebende bleibt zurück, wundersam getragen und umgeben von den Engelwesen.

Mit „Melting“ von Konstantin Tselikov folgte ein Solo für einen Tänzer (Mariá Huguet) in hellgrauem Trainings-Outfit zu Musik der österreichischen Harfenistin Monika Stadler – ein kleines, feines Stück der Nachdenklichkeit, bevor „Dogma“ von Aleix Martínez einen furiosen Schlusspunkt unter die Aufführung setzte. Es prangert die Folgen eines verbohrten Dogmatismus jeglicher Couleur an – mächtig, eindringlich, bewegend. Schon wenn zu Beginn eine Frau (Patricia Friza) wie eine Puppe mit einem Buch zurechtgeklopft wird, bis sie die richtige Haltung hat – mit dem Finger auf eine Buchseite zeigend, wobei es offenbleibt, ob es sich um eine Bibel oder den Koran oder ein anderes Lehrbuch handelt. Und es entfaltet sich ein eindringliches Szenario für fünf Frauen und sieben Männer, in dessen Verlauf deutlich wird – bis hin zu einer ‚Steinigung’ mit Büchern –, was passiert, wenn der Dogmatismus das Leben dominiert. Aleix Martínez ist hier ein flammendes Plädoyer für mehr Toleranz und Menschlichkeit gelungen, dem man nur eines wünscht: eine größere Bühne.

Genau das war das einzige Manko an diesen Vorstellungen: dass sie auf viel zu kleinem Raum stattfinden mussten. Die Opera stabile ist für den Tanz nicht konzipiert, sondern allenfalls für kleine, intime Aufführungen verschiedener Art. Ein Solo mag da noch hinpassen, aber schon bei einem Pas de deux wird es schwierig mit dem Platz. Es ist eine Schande, dass gerade die jungen, talentierten Hamburger Tänzer*innen ihre Arbeiten nicht auf einer angemessen großen Bühne präsentieren können – noch dazu, wo es einen passenden Raum durchaus gegeben hätte: Die K6 der Kampnagelfabrik wäre frei gewesen. Den „Jungen Choreographen“ einen angemessen Rahmen zu geben, ist umso mehr Verpflichtung, als alle beteiligten Tänzerinnen und Tänzer ja ihre Freizeit dafür opfern. Und die ist wahrlich nicht üppig bemessen angesichts der Belastung durch das normale Repertoire und die umfangreichen Gastspiele der Kompanie. Es wäre eine notwendige Geste der Anerkennung und des Respekts vor diesem großartigen Enthusiasmus für den Tanz, dass eine derart engagierte Arbeit einen entsprechenden Raum erhält. Zumal dann auch das tanzbegeisterte Hamburger Publikum besser daran teilhaben könnte, denn die wenigen Plätze in der Opera stabile waren natürlich in Nullkommanichts ausverkauft. Bei dem großen Interesse für das Hamburg Ballett und seine Tänzer*innen wäre es sicher ein Leichtes gewesen, das auch für die K6 zu schaffen. Den Verantwortlichen sei ans Herz gelegt, das nächstes Jahr doch einmal zu bedenken.

 

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