Emily Molnar
Emily Molnar

„Wir gehen nie ohne Ziel und Zweck auf die Bühne“

Ballet BC: Deutschlanddebüt bei Movimentos, dem Festival der Autostadt Wolfsburg

Emily Molnar spricht mit Volkmar Draeger über ihre Karriere, die Arbeitsweise und das Repertoire des kanadischen Ballet BC.

Vancouver / Wolfsburg, 13/03/2018

Wenn sich am 5. April der Vorhang im Kraftwerk von Volkswagen zur Eröffnung der diesjährigen Movimentos Festwochen hebt, ist das auch die Premiere für eine Kompanie, die sich Wolfsburg und sein Tanzpublikum erobern will und sicher wird. Das Ballet BC wurde bereits 1986 in Vancouver gegründet und war damals ein eher klassisch orientiertes Ensemble, dem auch Reid Anderson verbunden war. Seit 2009 leitet Emily Molnar die Kompanie und hat sie seither gehörig umgekrempelt. Das hat mit ihrem Weg durch den Tanz zu tun. Er begann im National Ballet of Canada, dessen Ballettschule sie auch besucht hatte. Als dort William Forsythe ein neues Stück einstudierte, hat er die 16-Jährige mitbesetzt. Das war eine Art Initialzündung für die junge Tänzerin. Mit 21 schloss sie sich seinem Ballett Frankfurt an, studierte später ausführlich, wie sie im Telefongespräch sagt, seine Improvisations-Technik: „Mit allem, was ich gelernt hatte, wusste ich fortan kaum mehr etwas anzufangen, alles stand infrage.“

Fragen zu stellen, erläutert sie, sei auch die Arbeitsweise ihrer Kompanie, in deren Namen „BC“ für den Bundesstaat British Columbia steht. Den 16 teils blutjungen, aus Kanada und den Vereinigten Staaten stammenden TänzerInnen verlangt sie Verantwortung für die Bewegungsfindung ab: „Wir wollen Grenzen zwischen Körper und Geist ausloten, unser Potenzial ausschöpfen, fragen, warum und wie wir am besten tun, was wir tun. Jeder ist dabei gleich bedeutend, es gibt bei uns keine Solisten. Das Zauberwort heißt Kollaboration.“ Was ist ihre künstlerische Vision? „Tänzer in den Kreationsprozess zu verwickeln, was ihnen abfordert, die in der Schule gelernten Schritte und Muster zu vergessen. Nur so“, ist Emily Molnar überzeugt, „entstehen Stücke, die für unsere heutige Welt relevant sind.“ Eingeladen hat sie dazu viele internationale Gastchoreografen, die ebenso auf der Suche nach einer neuen Tanzsprache, einem neuen Vokabular sind. William Forsythe ist verständlicherweise darunter, Ohad Naharin und Emanuel Gat, Cayetano Soto, Johan Inger und Jacopo Godani, Jorma Elo, Kevin O‘Day und Aszure Barton. Dass jüngst der Franzose Medhi Walerski, Ex-Tänzer bei NDT, sogar „Romeo + Juliet“ mit dem Ballet BC einstudiert hat, verwundert nicht: „Die Zeit ist jetzt reif dafür“, sagt Molnar, „es ist eine Herausforderung für die Tänzer. Wir gehen nie ohne Ziel und Zweck auf die Bühne, haben die Geschichten in unserem Körper. Es ist nur die Frage, wie wir diese Geschichten heute erzählen. ‚Schwanensee‘ gehört auch zu dem, woher wir kommen.“

Auf inzwischen 45 Werke ist das Repertoire von Ballet BC angewachsen. Daheim in Vancouver tritt es mit drei verschiedenen Programmen von Herbst bis Frühling im 2700 Besucher fassenden Queen Elizabeth Theatre auf und tourt außerdem fünf bis neun Wochen national und international, begeistert im New York City Center ebenso wie beim renommierten Jacob‘s Pillow Festival oder gerade eben beim Gastspiel in Großbritannien. „Klassisch ist die Trainingssprache, wir haben viele Gastlehrer, auch für Contemporary“, sagt Emily Molnar. „Unsere Tänzer sind für fast 50 Wochen fest angestellt und alle gleich bezahlt“, umreißt sie den wichtigen, für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlichen sozialen Aspekt. Wo sieht sie innerhalb Kanadas ihre Kompanie? „Wir gehören hier sicherlich zu den ‚big five‘, sind eine auf Neukreation spezialisierte Truppe. Das ist einzigartig in unserem Land, wo etwa Les Grands Ballets Canadiens eher traditionell orientiert sind.“ Nicht umsonst hat Molnar kürzlich für ihre Verdienste um die Entwicklung des Tanzes mit dem Order of Canada eine der höchsten nationalen Auszeichnungen erhalten.

Für sein Deutschlanddebüt in Wolfsburg hat das Ballet BC drei Stücke im Reisegepäck. Von Crystal Pite, die bei Ballet BC getanzt hat und die Emily Molnar seit den gemeinsamen Jahren beim Ballett Frankfurt kennt, stammt „Solo Echo“, entstanden 2012 fürs NDT. Inspiriert wurde das Stück von Mark Strands Poem „Lines for Winter“, das von der Freude spricht, den Tod anzunehmen - als Preis dafür, gelebt zu haben. Zwei Cellosonaten von Johannes Brahms unterfüttern Pites Choreografie, eine den Überschwang der Jugend, die andere den Verlustgedanken im Alter. „Bill“, das Sharon Eyal und Gai Behar 2010 für Batsheva schufen, beginnt mit fünf verschiedenen Solos, „die ein und dieselbe Person aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen“, wie Molnar den ersten Teil sieht: „Der zweite Teil untersucht, wie Individuen eine kollektive Einheit bilden und trotzdem ihr Selbst behaupten können.“ Den Schlusspunkt des Abends setzt „16 + a room“ von Emily Molnar. Ihre Choreografie aus dem Jahr 2013 hat sie 2016 überarbeitet, geblieben ist die Auseinandersetzung mit dem Raum als der großen Unbekannten: „Was geschieht, wenn wir uns vorstellen, der Boden beginnt zu kippen, als ob man sich in einem Schneeball befindet? Gemeinsam mit den Tänzern haben wir hierfür eine Bewegungssprache gefunden, in der der Boden die Decke sein kann und umgekehrt. Wie reagiert da der Körper?“ Jenes Kippen sei das Unbekannte wie das Leben selbst: „Ein abstraktes Gleichnis, wie auch die Gesellschaft kippen könnte.“ Und ein Beweis ihrer These, dass das Ballet BC „nie ohne Ziel und Zweck“ auf die Bühne geht.

Dass dieses Gastspiel zugleich den Abschied vom Kraftwerk als festem Auftrittsort für den Movimentos-Tanzteil einleitet, ist der Wermutstropfen: Es wird künftig wieder vom Konzern benötigt, neue Spielorte für die Folgejahre werden derzeit intensiv gesucht. Ein Grund mehr, noch möglichst viele der hochkarätigen Gastspiele 2018 zu besuchen!

Weitere Informationen zum Programm des Ballet BC bei Movimentos: www.movimentos.de/programm/tanz/ballet-bc/

 

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