Rückblick auf fünf Jahre Ballettintendant Anderson

Hie beste Arbeit, hie Stagnation

Stuttgart, 31/07/2001

Der Stuttgarter Ballettintendant Reid Anderson ist nun seit fünf Jahren in seinem Amt, das er sich so sehr gewünscht hatte, und von dem wohl auch die meisten Ballettfreunde hofften, dass er es übernehmen würde. Seine Aufgabe, die ihm von Marcia Haydée hinterlassene, überalterte Truppe drastisch zu verjüngen und wieder auf einen Spitzenplatz zu hieven, hat er schneller und besser gelöst, als das zu erwarten gewesen wäre. Das Stuttgarter Ballett, diese Gewissheit hat sich in der gerade zu Ende gegangenen Saison noch gefestigt, rangiert heute, was seine tänzerische Qualität angeht, sogar international in der Oberliga.

Anderson hat außerdem das Repertoire mit für Tänzer und Publikum wichtigen zeitgenössischen Werken von Balanchine, Robbins und Forsythe bereichert. In der vergangenen Spielzeit waren das „Apollo“, „The Cage“ und „The Vertiginous Thrill“. Das wird sich zum Glück fortsetzen. Insofern steht die Sache gut. Aber weder ist es dem Ballettchef gelungen, auch nur einen Choreografen von Rang dazu zu bewegen, für Stuttgart ein Werk zu kreieren -Begründungen gibt es viele, aber keine neuen Stücke-, noch hat er es verstanden, seiner Compagnie ein unverwechselbares Profil zu geben. Was man in Stuttgart sieht, das kann man, vielleicht nicht immer so gut getanzt, überall sehen.

Daran ändert auch nichts, dass Anderson seine aus der eigenen Truppe stammenden, hoffnungsvollen Ballettmacher Christian Spuck - der jetzt zum Hauschoreografen ernannt wurde - und Douglas Lee pro Saison ein Stück schaffen lässt. So sehr ihren Arbeiten Beifall zu zollen ist - dass sie schon internationales Aufsehen erregen würden, lässt sich kaum behaupten. Einzig die Entdeckung des Amerikaners Kevin O'Day kann Stuttgart für sich reklamieren. Doch dessen beide Erfolge, zuletzt „dreamdeepdown“, werden durch zu viele andere Pleiten mehr als wettgemacht.

Es hapert also an der nachhaltigen Kreativität. Das wiegt umso schwerer, als dass die beiden einzigen, immens teueren Neuproduktionen abendfüllender Handlungsballette während Andersons Ägide, mit denen er wirklich Mut zur Zukunft hätte beweisen können, seine eigene „Giselle“ vor Jahren und Maximiliano Guerras „Don Quijote“ in der vergangenen Saison, zu den tödtesten Museumsstücken geraten sind, die sich denken lassen und der Truppe, neben großem Lob für ihre tänzerische Leistung, fast nur Hohn und Spott eingebracht haben. Den Ballettdirektor ficht das nicht an. Er wähnt sich auf dem richtigen Weg zurück und verweist auf den immensen Publikumszuspruch und die gemischten Programme, die, zwischendurch en suite abgespielt, eher Alibi, denn künstlerisches Bedürfnis zu sein scheinen.

Schlimmer noch: Vom Mai 2000 bis zum Februar 2001 hat die Truppe (kaum zu glauben!) ausschließlich Handlungsballette getanzt und damit vorwiegend den breiten Publikumsgeschmack bedient - als bekäme sie nicht ihre vielen Subventionsmillionen in erster Linie dafür, auch Risiken eingehen und die Entwicklung des Tanzes vorantreiben zu können. Kein Wunder, dass die überregionale und internationale Kritik Stuttgart praktisch nicht mehr wahrnimmt - wohin künftig der Ballettwind wehen wird, das ist hier, wo einst der Trend bestimmt wurde, schon längst und in letzter Zeit erst recht, nicht mehr auszumachen.

Mit der Austauschbarkeit des Repertoires geht jene der Compagnie einher. Nie zuvor war das Stuttgarter Ballett so stromlinienförmig, gleichgesichtig wie heute. Es gibt in ihm niemanden, der irgendwelche nennenswerten technischen oder gar körperlichen Defizite hätte, wie sie zu Crankos und auch Haydées Zeiten noch zuhauf in der Truppe waren und die man dafür umso mehr liebte. Der Großteil des Corps - aus den Augen, aus dem Sinn. Zum Glück tanzen hier aber noch große, persönlichkeitsstarke Künstler wie Sue Jin Kang, Julia Krämer, Tamas Detrich und Roland Vogel, an deren Beispiel sich neue (tänzerisch eh schon perfekte) Charaktere gleichsam empor zu ranken beginnen: die köstliche Bridget Breiner, die hoheitsvolle Roberta Fernandes, die entzückende Soubrette Patricia Salgado, die feingliedrige Alicia Amatriain, der fliegende Jungspund Filip Barankiewicz, der edle Douglas Lee, der lichte Prinz Friedemann Vogel, der quicklebendige Eric Gauthier, Thomas Lempertz und noch einige.

Hie beste Arbeit und bewundernswerte Erfolge, hie künstlerische Stagnation - bis Reid Anderson seine Compagnie an die maßgebenden Truppen in Hamburg, Frankfurt und Nürnberg herangeführt haben wird, dürfte noch eine lange Zeit vergehen. Falls er es denn überhaupt will.

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