Monika Woitas: Leonide Massine - Choreograph zwischen Tradition und Avantgarde

Eine zwar summarische, aber trotzdem nützliche Annäherung an den Choreografen

Tübingen, 01/01/1996

Bei Léonide Massine von Stilpluralismus zu sprechen grenzt an eine Untertreibung. Denn was der 1896 als Leonid Fjodorowitsch Mjassin geborene Tänzer und Choreograf bis zu seinem Tod 1979 geleistet hat, ist bemerkenswert. Trotzdem stellt er zumindest in Wissenschaftskreisen eine „terra incognita“ dar, wie Monika Woitas im Vorwort zu ihrer Publikation „Leonide Massine – Choreograph zwischen Tradition und Avantgarde“ schreibt. Dieser Untersuchung liegt Woitas' 1988 an der Universität Salzburg eingereichte Dissertation zugrunde, die ihren Schwerpunkt auf die für Diaghilew choreografierten Ballette legt, also auf die Zeit von 1915 bis 1928. Diesen Fokus hat die heute in München lehrende Wissenschaftlerin auch in der überarbeiteten Fassung beibehalten, aber um wichtige spätere Stücke ergänzt.
 

Das an die 100 Bühnenwerke umfassende Œuvre Massines (nicht mitgerechnet seine Choreografien für Revue, Schauspiel, Oper und Film – wie etwa für die „Roten Schuhe“ – sowie seine Studien und Aufführungen indianischer Tänze) unterteilt Monika Woitas in sechs Gruppen: erstens die „Genre-Ballette“, Handlungsballette, in denen das von der literarischen Vorlage vorgegebene Zeitkolorit eine wesentliche Rolle spielt („Las meninas“, „Pulcinella“); zweitens die „Folklore-Ballette“, in denen das Exotische „zum Fundament des gesamten Werkes“ wird („Les Contes russes“, „The Three-Cornered Hat“); drittens „Tanz-Mysterien-Spiele“ in Anknüpfung an die „Tradition sakraler Kunst, seien es nun Ikonen, Fresken oder liturgische Musik wie die Lauden“ („Liturgie“, „Nobilissima Visione“); viertens „experimentelle Ballette“, die ein neues Verhältnis zu bildender Kunst und Musik entwickeln („Le Chant du rossignol“, „Le Sacre du printemps“); fünftens und sechstens – nach der Zusammenarbeit mit Diaghilew – „sinfonische Ballette“ („Choreartium“, „Les Présages“) und „Literaturballette“ („Aleko“, „Mario und der Zauberer“).

Dazu gibt die Autorin eine systematische, Entstehung und Wirkung berücksichtigende Einführung, die den „Gesamtkunstwerks“-Gedanken Diaghilews reflektiert und in Beziehung setzt zu den Theater- und Bühnenreformen der Jahrhundertwende. Einen Hauptteil bildet die Beschreibung von „Parade“, 1917 für die Ballets Russes entstanden, der Prototyp eines bildende Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Choreografen gleichermaßen begeisternden und beflügelnden Balletts. Picasso, Satie, Cocteau und Massine bildeten hier quasi ein Autorenkollektiv.

Woitas' Studie ist eine verdienstvolle, leicht lesbare Einführung in das Werk Léonide Massines. Dass dabei trotzdem etwas verschenkt wurde, liegt am methodischen Vorgehen der Autorin: Sie verlässt sich auf die „vergleichende Betrachtung verschiedener Berichte, ergänzt durch Photos“ und lässt vorliegende Notationen und Rekonstruktionen mit Hinweis auf deren spätere Erstellung, die von der Originalversion abweichen würde, außer acht. Abgesehen davon, dass zeitgenössische Fotos im Studio entstanden und somit auch nicht unbedingt als authentisch für das Bühnenwerk anzusehen sind, wäre es von großem Interesse gewesen, die aus Notation und Rekonstruktion zu ermittelnde „structure of the ballet“, die Massine noch als gesichert bezeichnete (wie Woitas in einer Fußnote anführt), zumindest vergleichend hinzuzuziehen.

Auch Massines Buch „Massine on Choreography. Theory and Exercises in Composition“ hätten in einer Publikation über den Choreografen Massine mit mehr als einer Erwähnung in der „Chronik“ seines Lebens Eingang finden müssen. So bleibt es bei einer ersten summarischen, gleichwohl sehr nützlichen Annäherung an einen Choreografen, der Tanz-, Theater- und Filmgeschichte geschrieben hat – dafür hätte man ihn auch mit einem ausführlichen Werkkatalog im Anhang würdigen können. Ein solcher ist zwar als „in Vorbereitung“ angekündigt, wo aber ist der Platz für eine derartige Zusammenstellung wenn nicht in dieser Studie? Ein Umstand, der wohl eher der sparsamen Haushaltsführung bei der Publikation als der Arbeit der Autorin anzulasten ist.

 

Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. 18, Tübingen 1996, Max Niemeyer Verlag, 238 S., Abb., DM 86,-

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