Über Ruhm und Klippen zur Komplexität

30 Jahre John-Cranko-Schule

Stuttgart, 01/12/2001

In seiner Blütezeit, als es unter der Leitung seines neuen Chefs John Cranko wie ein Komet am internationalen Balletthimmel aufstieg, da wurde das seinerzeit noch so genannte Ballett der Württembergischen Staatstheater Stuttgart für etwas berühmt, was es bis dahin nicht gegeben hatte - nämlich eine Truppe unverwechselbarer Individuen zu sein, bei deren Aufführungen von Handlungsballetten selbst den Corpstänzern in den hintersten Winkeln der Bühne zuzuschauen Abenteuer und Vergnügen war. Cranko war sich sehr wohl dessen bewusst, dass der Compagnie diese besondere Qualität zu erhalten, sie womöglich noch zu steigern, nur gelingen könnte, wenn sie sich ihren Nachwuchs sozusagen selbst heranziehen würde. Er sollte bereits als Schüler und Student vom „Stuttgarter Geist“ beflügelt sein.

Das konnte nicht mit der bestehenden, kleinen Ballettschule der Staatstheater erreicht werden, sondern nur mit einem eigenständigen Institut, in dem Kinder von ihren ersten Tanzschritten bis zur Bühnenreife ausgebildet werden und ein abschließendes Diplom erwerben konnten. Dieser Ballettschule musste ein Internat angeschlossen sein, um auch Jugendlichen aus anderen Bundesländern und dem Ausland den Unterricht zu ermöglichen. Am 1. Dezember 1971 wurde, nach immensen organisatorischen und administrativen Problemen, die heutige, seinerzeit sehr viel kleinere, Ballettschule in der Urbanstraße eingeweiht und zwei Jahre danach zur Staatlichen Ballettakademie ernannt. Eine Ausbildungsstätte, für die es damals in Deutschland kein Beispiel gab.

Wie ernst es Cranko mit diesem Institut war, lässt sich schon daran erkennen, dass er Anne Woolliams, seine engste künstlerische Vertraute und erste Ballettmeisterin der Compagnie, mit seiner Leitung beauftragte. Woolliams, eine Kapazität ersten Ranges, ihr Buch „Ballettsaal“ ist ein Standardwerk des Genres, scharte eine Reihe vorzüglicher Pädagogen um sich und verschaffte der Schule in kürzester Zeit einen ausgezeichneten Ruf. Sie wurde von ihren Schülern über die Maßen bewundert und respektiert und ist, wenn unter ihnen die Rede auf sie kommt, noch immer „Miss Woolliams“ - in der sich duzenden Ballettwelt ein Beweis höchster Anerkennung.

Nach John Crankos plötzlichem Tod im Jahre 1973 wurde „seine“ Schule auch nach ihm benannt. Drei Jahre später wurde Anne Woolliams zur Direktorin des Australian Ballet in Melbourne berufen. Als ihren Nachfolger schlug sie Heinz Clauss vor, den unvergessenen ersten Solisten des Stuttgarter Balletts, der dieses Amt bis zum Jahre 1990 inne hatte. Er, in seriösem Habitus und persönlicher Art völlig dem Klischee eines Tänzers widersprechend, hat sich außerordentliche Verdienste um die John-Cranko-Schule erworben. Auf ihn warteten Schwierigkeiten zuhauf.

Die beiden größten waren zweifellos, dass er erstens, um die Schule international konkurrenzfähig zu erhalten, dazu gezwungen war, Woolliams' „behutsame“, relativ langsam voranschreitende, „englische Methode“ durch das wesentlich effektivere, geradezu voranjagende „russische System“ der Agrippina Waganowa zu ersetzen, und zwar gegen den massiven Widerstand des Lehrkörpers, der sich teilweise auflöste und durch neue Pädagogen aufgefüllt werden musste. Zweitens hatten sich inzwischen in München die Heinz-Bosl-Stiftung und die Ballettschule des Hamburger Balletts nach Stuttgarter Beispiel gegründet. Damit hatten die begabtesten Ballettschüler, unter denen sich Stuttgart bis dahin nach Belieben bedienen konnte, plötzlich die Wahl zwischen drei annähernd gleichwertigen Instituten.

Dass somit in der Urbanstraße der Talentesegen dünner geworden war und die Schule ihre Vormacht eingebüßt hatte, wurde indes in der Öffentlichkeit und zum Teil auch in der Compagnie, beinahe ausschließlich Heinz Clauss zum Vorwurf gemacht. Hinzu kam, dass ein im Grunde erfreulicher Umstand, nämlich der Anbau eines großzügigen, dreistöckigen Gebäudes mit Ballettsälen im Jahre 1983, eine Notlösung beendete, die sich für die Studenten der Schule gleichwohl zum Vorteil entwickelt hatte - einen Teil ihres Unterrichts in den Ballettsälen im Großen Haus zu erhalten und damit einen inspirierenden Kontakt mit den Stuttgarter Tänzern zu pflegen.

Heinz Clauss hat die Schule sicher über diese Klippen geführt, was nicht zuletzt eine kleine Auswahl jener Tänzer beweist, die unter seinen Händen gediehen sind: Julia Krämer, Sonia Santiago, Roland Vogel, Wolfgang Stollwitzer, Matthias Deckert, Christoph Lechner und viele andere. Im Jahre 1990 übernimmt Alex Ursuliak, bis dahin Stuttgarter Ballettmeister und ein Körpererzieher par excellence, die Direktion der Schule und ertrotzt sich gleich ihre völlige Autonomie. Unter Ursuliaks Leitung strahlt die Schule bald in hellstem Lichte. Er reist durch die Welt, vornehmlich durch die östliche, und „kauft“ die talentiertesten, beinahe fertig ausgebildeten Studenten für Stuttgart ein, verleiht ihnen den letzten Schliff und schickt sie auf renommierte Wettbewerbe. Die jährlichen Aufführungen der Schule gleichen mehr und mehr Galaabenden, bei denen kaum noch Kinder zu sehen sind, die Schule unternimmt ausgedehnte Gastspielreisen mit dem gerade in den Westen übergesiedelten Vladimir Malakhov als Stargast - die Welt staunt über diesen tänzerischen Durchlauferhitzer.

Nachdem im Jahre 1997 schwere Vorwürfe von Studentinnen gegen Ursuliak laut werden, die allerdings vor Gericht nicht verifiziert werden können, muss er die Schule verlassen. Ballettintendant Reid Anderson nutzt die Chance, reiht die John-Cranko-Schule wieder in seinen Verantwortungsbereich ein, entlässt zahlreiche Lehrer und sucht nach einem neuen Leiter, den er im Jahre 1999 in dem Karlsruher Ballettmeister Tadeusz Matacz findet. Der richtet die Schule völlig neu aus. Er versucht seinen Schutzbefohlenen eine umfassende, über das Ballett hinaus reichende, künstlerische Bildung zu vermitteln, was indes mehr Mühe bereitet, als er zunächst annimmt, er legt weniger Wert auf äußeren Schein, sondern mehr auf Homogenität und inneren Zusammenhalt der gesamten Schule.

Nach und nach führt er seit Woolliams beinahe vergessene, bewährte Mittel zum Wecken der jugendlichen Kreativität wieder ein - zum Beispiel war in der jüngsten Schulvorstellung, neben weiteren Uraufführungen, wieder die Choreografie eines Studenten zu bewundern. Überhaupt fällt die stärkere Präsenz der jüngeren Jahrgänge bei den Schulaufführungen ins Auge und das größere Gewicht, das der Folklore und dem „Charakter“ beigemessen wird. Die Ausbildung wird augenscheinlich komplexer, was den beruflichen Chancen der „Cranko“-Schüler zweifellos zupass kommen wird. Matacz gelingt es offenbar auch, die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Ballett wieder zu intensivieren. Denn über die, stets übliche, Mitwirkung von Studenten in den Aufführungen der Truppe hinaus, arbeiten Schule und Compagnie immer häufiger zusammen, zuletzt bei den Festwochen anlässlich „40 Jahre Stuttgarter Ballett“ in Crankos „Pineapple Poll“ und beim Galaabend.

Derzeit werden etwa 150 Schüler und Studenten aus 18 Nationen an der John-Cranko-Schule unterrichtet, knapp zwei Drittel der heutigen Stuttgarter Tänzer stammen aus ihr. Einen besseren Beweis für die Schlüssigkeit von Crankos Voraussicht könnte es kaum geben. Und dass der „Geist“ der Truppe in der Schule vermittelt wird, dafür bürgen nicht zuletzt jene ehemaligen Stuttgarter Tänzer, die jetzt in ihr als Pädagogen tätig sind: Sarah Abendroth, Susanne Hanke, Claudia Shinn, Richard Gilmore und Marek Pretki.

Kommentare

Noch keine Beiträge