Mann unterm Mond

„Modern Dance I“: Vier zeitgenössische Choreografien am Gärtnerplatztheater

München, 25/01/2002

„Nachts geht alles besser. Ist man kreativer. Wacher“, sagt Cayetano Soto und nimmt die Nacht wichtiger als den Tag. Denn seit der Tänzer des BallettTheaters München auch choreografiert, kann er nachts kaum mehr schlafen, vor allem bei Vollmond, und mag doch die dunklen Stunden lieber als die hellen. Schon seine allerersten choreografischen Versuche kreisten um den Himmel, sein erstes „richtiges“ Stück, das am Sonntag um 19 Uhr am Gärtnerplatztheater uraufgeführt wird, nennt der 1975 geborene Spanier „Plenilunio“, „Vollmond“. Einen Teil davon gab es bereits beim Choreografen-Workshop der Kompanie im vergangenen Sommer zu sehen. Davon war Ballettchef Philip Taylor so angetan, dass er Sotos überarbeitetes und erweitertes Werk zu Musik von Alberto Iglesias ins reguläre Repertoire übernahm.

Dabei zielen Taylors Choreografen-Workshops nicht in erster Linie darauf ab, neue Talente zu entdecken, sondern dem Ensemble zu ermöglichen, einen Abend alleine auf die Beine zu stellen: „Der Tänzeralltag ist doch geprägt von Ansprüchen, die von außen an die Tänzer herangetragen werden. Hier sollen sie selbst kreativ werden“, sagt der Ballettdirektor, „jede Aufgabe, die für so einen Abend anfällt, wird von den Tänzern übernommen.“ In dieser Arbeitsatmosphäre entstand die Keimzelle zu Cayetano Sotos Stück über den Vollmond, verstanden als Metapher für zwischenmenschliche Beziehungen.

Unter dem Titel „Modern Dance I. Vier zeitgenössische Choreografien“ präsentiert die erste Premiere des BallettTheaters München in dieser Spielzeit Werke und Stile, die in München so noch nicht zu sehen waren. Philip Taylor hat Ensemble und Bühne vier Kollegen überlassen. Mit der Amerikanerin Jennifer Hanna tanzte Taylor in Jirí Kyliáns Nederlands Dans Theater (NDT). Bevor sie nach Den Haag kam, war Hanna Tänzerin bei Mats Ek im Stockholmer Cullberg- Ballett; dort entstanden ihre ersten Choreografien, die gleich mit einem Stipendium belohnt wurden. 1994 gründete sie mit Itzik Galili die Kompanie Galilidans. „Torn stone and hiccup“, das Jennifer Hanna mit dem Münchner Ensemble einstudiert, entstand während einer Krise. „Ich habe dieses Stück zuerst gesehen, bevor ich es hörte“, schreibt sie über ihre Choreografie zu Kompositionen von Kevin Volans und Michael Nyman: Im ersten Teil einen treibenden Sound, der nicht aufhören wollte. Im zweiten Teil eine Stimme, die sagte: „It‘s allright“.

Der dritte Teil war der schwerste. Er hörte sich wie nichts an, war aber nicht nichts.“ Ihr Kollege Dylan Newcomb hört, wenn er tanzen lässt, seine eigene Musik. Zu dem mit dem Philip Morris Art Dance-Prize ausgezeichneten Solo „Passing“, das am Premierenabend Alan Brooks tanzen wird (in späteren Besetzungen: Christine Bombosch und David Rosso) schuf Newcomb selbst die Musik. Ausgebildet in Tanz und Komposition an der Juilliard School in New York, forscht er über die Möglichkeiten simultanen Komponierens und Tanzens, schrieb Ballettmusik.

Der Vierte im Bunde bei „Modern Dance I“ ist der Engländer Jonathan Lunn, Besuchern der Bayerischen Staatsoper wohl bekannt als Choreograf der Opernproduktionen „Acis und Galatea“, „Dido und Aeneas“, „La clemenza di Tito“ und „Xerxes“. Nach Jahren als Mitglied der künstlerischen Leitung des London Contemporary Dance Theatre verließ Lunn 1990 die Kompanie. Seitdem arbeitet er frei und ist froh darüber. Mit den Münchner Tänzern studiert er zu zwei Partiten von Johann Sebastian Bach „Bach Bench“ ein, wofür er den Tänzern Texte gibt, zu denen sie frei improvisieren. Lunn verteilt kurze Texte, oft Dialoge, Monologe oder Sonette Shakespeares, zu denen die Tänzer Wort für Wort eine körperliche Entsprechung finden müssen; nicht um Bedeutungen darzustellen, sondern um persönliche Assoziationen zu finden, die wiederholbar und kontrolliert sein sollen. Die Texte sind Teil des Arbeitsprozesses, helfen den Tänzern, die eingefahrenen Erwartungen, man solle etwas Lyrisches und Verbundenes abliefern, zu unterlaufen: „Ich will nicht, dass sie die Bewegungen absoften, sondern sie so belassen, wie man auch spricht“, sagt Jonathan Lunn, der die außergewöhnliche Tänzer-Text-Arbeit als Erbe seines Studiums der englischen Literatur und Theaterwissenschaft begreift.

Während seiner Zeit an der Universität von Hull kam er zum Tanz. Als Theaterwissenschaftler dazu verdonnert, einen Workshop des London Contemporary Dance Theatre (LCDT) auf dem Campus mitzumachen, ging er widerstrebend hinein und kam bekehrt heraus: „Ich war nicht besonders sportlich, dachte, man habe eben zwei Beine, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Bei dem Workshop stellte sich heraus, dass ich einen guten Körper für Tanz habe. Ich war begeistert und verkündete: Ich werde Tänzer.“ Jonathan Lunn beendete sein Studium und ging anschließend nach London zum LCDT. „Da warst du noch gar nicht auf der Welt“, sagt er zu Cayetano Soto und lacht. Der rechnet nach und erzählt, dass er mit 13 Jahren eine Aufführung des LCDT in Spanien gesehen habe und sicherlich auch ein Stück von Lunn dabei gewesen sei.

Heute ist Soto Tänzer in dessen Stück „Bach Bench“. Fast ein Wunder. Denn Soto, seit 1998 im Ensemble des BallettTheaters München, verletzte sich während einer Vorstellung schwer am Knie und musste elf Monate mit dem Tanzen aussetzen. Vor einigen Jahren wäre dieser Unfall das Aus für die Tänzerkarriere gewesen. Für Soto bedeutete er einen enormen Schock und mindestens einen ebenso großen Bewusstseinsschub. „Clever“ müsse ein Tänzer sein, wenn er wirklich gut sein wolle, sagt er sehr häufig im Gespräch und versteht darunter hohe Sensibilität und die Wahrnehmung für das, was im eigenen Körper vorgeht. Seine Erfahrungen als Choreograf fördern ihn als Tänzer, sagt er. Seine Erfahrungen als Tänzer mit verschiedenen Stilen schränken ihn als Choreografen nicht ein: „Sicher ist es ein Alptraum, wenn man beim Choreografieren daran denkt, dass alles schon einmal gemacht worden ist.“ Trotzdem will er die Einflüsse anderer Choreografen nicht zurückweisen, weil sie ihm wichtig sind. Will sie sich so anverwandeln, dass etwas Neues daraus entsteht. Ideen für ein weiteres Stück hat er bereits im Kopf. Es geht abwärts: Nach dem „Vollmond“ soll sich das nächste Mal alles auf der Erde abspielen. Wenn ihm nicht noch etwas anderes einfällt – in der Nacht nach der Premiere. Bei Vollmond.

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