In Lübeck wird der Tanz aus der Stadt gedrängt

Tanz Companie Lübeck: „The Windeater“ im Schuppen 6

Lübeck, 10/03/2002

Links gluckert die Trave, rechts rauscht der Verkehr vorbei: Der Hafenschuppen 6, derzeitiger Spielort der Tanz Companie Lübeck (TCL), liegt „verkehrsgünstig“ an der Marienbrücke, schräg gegenüber dem gigantischen MuK (Musik- und Kongresshaus), das die Stadt jetzt wegen der Kosten gern loswerden will. Mit dem Ballett/Tanz hat sie schon vor knapp sieben Jahren am Theater kurzen Prozess gemacht: Die Sparte wurde unter dem damaligen Intendaten Dietrich von Oertzen komplett abgeschafft, um den Kredit für die Renovierung des Hauses zu finanzieren. Bei von Oertzen hatte die freie Tanz Companie, geleitet von Juliane Rößler, noch die zweite Bühne, die Kammerspiele, regelmäßig bespielen dürfen als quasi billige Haustanzgruppe. Sein Nachfolger Marc Adam reduzierte in seiner Antrittsspielzeit 2000/01 die Präsenz der Companie auf die „TanzMontage“. In dieser Saison ist auch damit Schluss, die TCL musste sich eine neue Aufführungsstätte suchen.

Im Hafenschuppen 6 tritt sie nun auf, will in diesem Jahr drei Produktionen stemmen. Die erste „The Windeater“ choreographierte der Neuseeländer Tony Vezich, bis 2000 beim Ballett Schindowski in Gelsenkirchen engagiert, zu Orgelmusiken von Olivier Messiaen und Arvo Pärt. Auf der kniehohen Bühne bewegen sich die drei Frauen Marlene Goubert, Jane van Fraassen, Antje Pfundtner sowie Olaf Reinecke in beigefarbenen Tops und Hosen meist isoliert voneinander in fast autistischer Selbstgenügsamkeit. Nur selten finden sich zwei, drei zu einem kurzen synchronen Ablauf. Ab und an taucht Tony Vezich wie ein Wanderer auf, absolviert eine Bewegungsfolge und verschwindet wieder. Die Vereinzelung bleibt Konstante, nie setzt Vezich die Gruppe als einheitlichen Block ein. Er verwendet (Leit-)Motive, die sich durch das ganze Stück ziehen: der Griff der Hände nach hinten an die Schulterblätter, als taste man nach Flügeln, das Durchfahren der Haare mit zwei Fingern, die vor der Brust und dem Gesicht aufgeklappten, im Ellbogen abgebogenen Arme, die wie ein geöffnetes Maul wirken.

Konvulsisches Zucken, Fallsequenzen, hüpfende Sprungserien, Abfolgen am Boden, Posen im klassischen Stil: Vezich breitet ein reiches Repertoire an Bewegungen aus. Verdichtungen gelingen ihm aber ebenso wenig wie gut getimte Spannungssteigerungen, gezielt gesetzte Höhepunkte. So zerfällt das Stück mehr und mehr, wird beliebig, scheint den Bezug zum Titel und den inneren Kontakt zur Musik zu verlieren. Dennoch ist der Abend nicht nur wegen der besonderen Atmosphäre im restaurierten, aus Balken konstruierten Schuppen sehenswert: Zwei Tänzerinnen beherrschen die Bühne. Zum einen die eindringlich präsente Marlene Goubert, der es gelingt, jede noch so groteske Körperverdrehung elegant aussehen zu lassen, ohne dabei an Intensität zu verlieren. Mit bildschönen Attituden beweist sie, dass sie auch klassisch exzellent platziert ist. Antje Pfundtner schafft es in ihrem ausgedehnten Solo, Kopfstützvarianten spannend aussehen zu lassen. Neben den soliden van Fraassen und Reinecke fällt Tony Vezich als Tänzer ab: der Schwachpunkt der Aufführung.

Wie lange sich die Gratwanderung der TCL ohne Aussicht auf eine solide finanzielle Grundlage durchhalten lässt, weiß Juliane Rößler nicht. Mit Produktionen wie „Medea-Sinfonie“, „Männer“, „Bernarda Albas Haus“, „Winterreise“ hat sie sich auch überregional einen Namen gemacht. Zu den TanzMontagen 2000/01 attestierte ihr „Die Welt“, „den Tanz in Lübeck aus der Provinzialität“ geführt zu haben. Eine dauerhafte Basissubventionierung hat das ihr und dem TCL nicht eingebracht. Gibt sie auf, verschwindet professioneller Tanz aus dem Kulturbild der Hansestadt Lübeck, denn das Theater zieht sich endgültig vom Tanz zurück, bietet keine Gastspiele mehr an wie noch in der vergangenen Spielzeit. Im Heft zu Adams Auftaktspielzeit hatte es noch vollmundig geheißen: „Seit jeher gehört Tanz zum klassischen Angebot des Stadttheaters.“ Gäste wie etwa das Nederlands Dans Theater III sollten die Lücke stopfen. Nun herrscht tabula rasa: Für die nähere Zukunft sei in dieser Richtung nichts geplant, sagt Silke Oberschachtsiek, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Für Operette, Musical, Oper wie „Aida“ „holen wir uns jeweils Tänzer und Tänzerinnen sowie Choreographen vom freien Markt.“

TCL bietet im September „Searching for Alice“, basierend auf „Alice im Wunderland“, in der Choreographie von Chris Haring an. Im November wird „Diner for Two“ zum Thema Essen und Genießen folgen, choreographiert von Juliane Rößler zu finnischer Tanzmusik.

Die beiden letzten Vorstellungen von „Windeater“ im Schuppen 6 laufen am kommenden Wochenende 15./16.März, jeweils 20 Uhr.

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