Das Tanzarchiv Leipzig sammelt in neuen Räumen

Mit Forschergeschick und Finderglück

Leipzig, 18/11/2006

Jede Dokumentation ist nur eine Annäherung. Fast schwingt in diesen Worten bei Melanie Gruß Bedauern mit. Dabei hat die amtierende Geschäftsführerin des Tanzarchivs Leipzig Grund zur Freude, weiß sie doch die teils empfindlichen Schätze endlich unter bestandsichernden Bedingungen gelagert. Seit Oktober verfügt die renommierte Einrichtung über einen neuen Standort im Herzen der Stadt. Auf zwei Etagen in der Ritterstraße 9-13, gegenüber einem Antiquariat und mit Einsicht in Seminarräume des Instituts für Theaterwissenschaft der Leipziger Uni, verteilt sich nun auf 650 Quadratmetern, was ein halbes Jahrhundert lang Forschergeschick und Finderglück zusammengetragen haben. J.L. Graubner & Söhne, deren Firmenzug in kunstvollen Lettern an der Hausfassade prangt, hätte gewundert, was aus ihrer um einen Lichthof herum gebauten Pelzverarbeiterei geworden ist. Die Decken mit ihrer hohen Tragelast kommen dem Archiv heute zugute.

Archiviert wird dort alles über alle Spielarten des Tanzes: was dazu vorbereitend und vordenkend notwendig war, was von der Ausübung dieser flüchtigsten aller Künste übrig blieb, was Tänzer, Choreografen, Dramaturgen, Pädagogen, Wissenschaftler nachgelassen haben. Schätzungsweise 100.000 Medieneinheiten, so der Bibliotheksjargon, umfasst der Bestand, wovon sich allein über 10.000 Werke in der ständig aktualisierten Präsenzbibliothek mit ihren Bildbänden, Lehr- und Nachschlagebüchern, Mikrofilmen, Zeitschriften befinden. Weil sich Tanz, trotz praktikabler Notationssysteme ähnlich der musikalischen Notenschrift, nur schwierig fixieren und dann nur von Eingeweihten lesen lässt, kommt seinem Abbild Bedeutung zu. So speichert das Filmarchiv Dokumente über die Arbeit etwa von Gret Palucca oder Jean Weidt, hält Videos und DVDs zur Ansicht. Im Bildarchiv stehen Fotografien, Dias, Plakate, choreografische Skizzen und Zeichnungen, Postkarten und Kunstblattsammlungen zur Verfügung. Eine Kollektion an Ballett- und Tanzmusik bietet Eindrücke vom Klangraum, der Tanz umgibt; Tonbandmitschnitte auch von Gesprächen mit Mary Wigman konservieren Stimme und Gedanken bedeutender Persönlichkeiten.

Besonders spannend forscht es sich freilich im riesigen, klimatisierten Archivraum mit seinen rund 150 Metern Signaturwerken, darunter Diplom- und Doktorarbeiten, durch die verwalteten Nachlässe. Bewegliche Rollregale bergen sie bis zur systematischen Auswertung, gegenwärtig die Hinterlassenschaften von Uwe Scholz und der Berliner Pädagogin Ilse Loesch. In beschrifteten Kartons aus nichtsäurehaltigem Material enden nach ihrer Erfassung jene Lebenszeugnisse für eine ehrfürchtige Nachwelt. Neben Unterlagen zum Staatlichen Tanz- respektive Staatlichen Folkoreensemble der DDR stößt man auf rund 20 solcher wohlsortierten Privatarchive, manches mit abenteuerlicher Zugangsgeschichte. So lagerte, was Rudolf von Laban 1937 bei der Emigration aus Deutschland seiner Vermieterin als Schuldenäquivalent überlassen hatte, schimmelnd in einer Scheune zwischen, gelangte in den Besitz der Wirtsnichte, ehe vermutlich Archivgründer Kurt Petermann dem Unikat auf die Spur kam. Der „Rote Tänzer“ Jean Weidt brachte im Koffer gleich selbst mit, was er bewahrt wissen wollte, darunter die Originalmasken seiner im Exil kreierten Choreografie „Unter den Brücken von Paris“ über das Dahinvegetieren alter Clochards. Schriftsteller Fritz Böhme, Folkloreforscher Herbert Oetke, Choreograf Henn Haas, Tanzhistoriker Rudolf Liechtenhan und viele andere, einander gewogen oder nicht, liegen nun friedlich kartoniert im Archiv gleich hinterm Lesesaal.

Der trägt den Namen des 1984 verstorbenen Kurt Petermann. Am Institut für Volkskunstforschung gründete der Musikwissenschaftler aus Holzweißig nahe Bitterfeld 1957 gemäß herrschender Kulturpolitik das Deutsche Volkskunstarchiv, erweiterte das Spektrum auf Tanz allgemein. Seine „Tanzbibliographie“ registrierte alle deutschsprachigen Zeugnisse zur Tanzgeschichte, in der Reihe „documenta choreologica“ publizierte er historische Standardwerke als Reprints.

Durch Angliederung an die Akademie der Künste der DDR 1975 kam das Tanzarchiv nach der Wende über den Einigungsvertrag in die existenzsichernde Zuständigkeit des Freistaats Sachsen. Als gemeinnütziger Verein, mit Universität Leipzig und Hochschule für Musik und Theater als Gründern, beschäftigt es drei Mitarbeiter, angeleitet von ehrenamtlichen Direktoren aus dem Lehrkörper beider Einrichtungen. Zapften bislang jährlich rund 3000 Nutzer - Studenten, Forscher, Praktiker - am Wissensborn des Tanzarchivs, so kommen derzeit deutlich mehr als im Vergleichszeitraum. Im umlaufenden Flur erwartet sie eine repräsentative Ausstellung mit Premierenplakaten aus dem Eigentum von Uwe Scholz.

Geöffnet werktäglich ab 9 Uhr, Infos unter www.tanzarchiv-leipzig.de

 

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