Stephen Greenston schreibt einen Leserbrief

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Stuttgart, 28/11/2001

Er gehörte zu den profiliertesten Solisten des Stuttgarter Balletts, unterrichtete und choreografierte auch gelegentlich. Ein Porträt im „Stuttgarter Ballett Annual 10“ charakterisierte Stephen Greenston als einen Amerikaner „mit deutscher Gründlichkeit“, rühmt ihn als einen Mann für zwiespältige Partien, nennt als seine markantesten Rollen Petruschka, das Opfer aus „Sacre du printemps“, Mercutio in „Romeo und Julia“ und den Tod in Robert Norths „Der Schlaf der Vernunft“ – da stand sein größter Erfolg noch bevor: als Junior in dem Musical „On Your Toes“.

Das Aus kam für ihn mit der neuen Stuttgarter Ballettdirektion. Es scheint ihn förmlich umgehauen zu haben. Seither fristet er sein Leben weiter in Stuttgart mit Gelegenheitsjobs. Jetzt hat er seiner Frustration in einem Leserbrief Luft verschafft, den das amerikanische Dance Magazine in seiner November-Ausgabe veröffentlicht hat. Ein paar seiner Gedanken scheinen mir mitteilenswert:

„Alt zu werden, bedeutet für einen Tänzer das unausweichliche Schicksal, mit dem Tanzen aufzuhören, und das zu einer Zeit, wenn die meisten Leute in ihrem Beruf gerade etabliert sind. Das Leben sollte nicht um die 40 herum aufhören, doch für Tänzer ist das ein Faktum des Lebens. Die Mehrzahl der Tänzer verbannt dieses Thema in einem Versuch, die Realität zu verdrängen, in die hinterste Ecke des Gehirns. Mit jeder neuen Verletzung wird es schwieriger, das Biest unter Kontrolle zu halten. Während der ganzen Karriere begegnet man vielen älteren Tänzern und beobachtet, wie sie sich zurückziehen. Man selbst aber dünkt sich anders. Die Realität wird kaum erkannt, geschweige denn akzeptiert – und dann kommt die erste Verletzung, die am nächsten Tag nicht besser wird.

So war ich an dem Punkt angelangt und mit dem Vergessen werden konfrontiert. Das Leben eines Tänzers steht zum großen Teil unter Schutz, besonders, wenn man mit einer großen Kompanie liiert ist. Beim Stuttgarter Ballett engagiert zu sein, erforderte wenig Kontakt mit der Außenwelt. Man machte seine Klassen und Proben. Das Essen in der Kantine war passabel, und nach der Arbeit hatte man gerade noch genug Energie, nach Hause und ins Bett zu gehen. Neunzig Prozent der Zeit während wir wach waren, verbrachten wir im Theater, unter uns selbst. Es war nicht einmal nötig Deutsch zu lernen, da fast jeder im Theater englisch sprach. Auf den Tourneen verstärkte sich diese Abhängigkeit noch. Wir scherzten auf den Flughäfen, taten so, als ob wir blökende Schafe wären, während wir auf jemanden warteten, der uns sagte, wohin wir gehen sollten. Jetzt würde ich also von der Herde abgeschnitten sein. Das Leben, wie ich es gekannt hatte, ein Ding der Vergangenheit. Gibt es eine Zukunft nach dem Tanz?“

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