Die Blicke in eine höchst interessierende Richtung

Nürnberg, 10/11/2001

Mittlerweile kann es als sicher gelten, dass jede Premiere beim Nürnberger Ballett Neues, nie zuvor Gesehenes bietet. Auch die jüngste, unter dem Titel „Geschwinde, ihr wirbelnden Winde …“ zu zahllosen Teilen aus Kompositionen von Johann Sebastian Bach lenkt die Blicke und Gedanken ihrer Zuschauer wieder in eine ganz ungewohnte, höchst interessierende Richtung. Das gilt jedenfalls für den ersten Teil des zweistündigen Abends, den Ballettchefin Daniela Kurz geschaffen hat. Sie beschäftigt sich diesmal sozusagen mit dem äußeren Menschen, ohne einen Blick in dessen Seele zu werfen. Die Choreografin stellt die Gliedmaßen und einzelne Teile des Tänzerkörpers in den Mittelpunkt ihres Werkes.

Die schwarze Wand an der Bühnenrampe öffnet sich in halber Höhe zu einem schmalen, horizontalen Spalt, in den sich von oben nackte Beine senken, die in der Leere nach einem Halt suchen, sich aneinander reiben, wieder verschwinden. In einer quadratischen Öffnung erscheint ein nackter, männlicher Thorax, der sich windet und mit der Musik atmet, die Mitglieder der Nürnberger Philharmoniker neben ihm spielen. Ein altes, halb nacktes Paar überquert die Bühne, Zukunft all jener schönen und sehnigen Körper, die ihre Schulterblätter so attraktiv wie wundersam arbeiten lassen. Glatzköpfige Tänzer verunstalten mit Bällen unter den fleischfarbenen Trikots ihre Gelenke und Rücken; auf einer großen Drehscheibe organisieren sie gewissermaßen gegenseitig ihre Bewegungen, finden sich zu grotesken Ensembles zusammen, bis sich die Bühne wieder zu einem Spalt verengt und endlich ganz schließt.

Bei aller Langsamkeit ist das kein meditatives, sondern ein eher physiologisch analytisches Stück, das dennoch, ohne sie zu illustrieren, eine wundersame Symbiose mit der Musik eingeht, die so aus ihren Zusammenhängen gelöst ist, wie die Körperpartien der sich zu ihnen bewegenden Tänzer. Kurz verengt unseren Blick in faszinierender Manier von der Totale in die Nahaufnahme und lässt uns damit den Tanz neu sehen.

Der Belgier Stijn Celis, der schon dem „Geflügelten Gelb“ der Nürnberger ein Stück beigesteuert hatte, bestreitet den zweiten Teil des Programms. Im gleichen, gemeinsam mit Kurz erarbeiteten Bühnenbild mit der Drehscheibe als zentralem Element, lässt er sich die Tänzer nach und nach aus einem Bewegungschaos zum Gleichklang der Körper entwickeln, aus dem sie als gestärkte Individuen hervorgehen. Weil Celis häufig Bearbeitungen und Verfremdungen von Bachs Musik einsetzt, kommt sie hier vom Band. Die häufig intuitiv wirkende Choreografie entwickelt sich allmählich aus einzelnen Tanzetüden, aus Duos auf Hockern, Aktionen auf einem Sofa, deren jede wie ein Ergebnis der Erfahrungen ihrer Vorgängerinnen anmuten. Ein Paar dekliniert in Windeseile Ports de bras, ein weiteres nimmt diese Bewegungen auf und kombiniert sie mit Motionen des Körpers, ein drittes erweitert diese Kombination zu großzügigen, kinetischen Skulpturen, die in ein synchrone Ensembles münden.

So ist Celins Teil des Abends wie eine zwingende, choreografische Schlussfolgerung aus Kurzens einleitender Detailrecherche, ohne dass er seine künstlerische Autonomie aufs Spiel setzen würde. Gleiches gilt für die erheblich verjüngte Compagnie, die schon am Beginn der Spielzeit wie ein homogenes, bestens aufeinander eingespieltes Team wirkt.

 

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