Großes Fragezeichen

Birgit Keil wird Ballettdirektorin in Karlsruhe

Karlsruhe, 22/10/2002

Auch wenn sie jetzt als Primaballerina und geradezu als eine Ikone des klassischen Balletts gehandelt wird (und gerne mit der entsprechenden Allüre auftritt): Birgit Keil war als Tänzerin immer auf der Höhe ihrer Zeit. Natürlich entspringt ihr Ruhm auch den klassischen Tutu-Rollen, aber sie kreierte zahllose Ballette von MacMillan, Tetley, Kylian, Forsythe, van Manen, Spoerli oder Scholz. Moderne Meisterwerke wie „Mein Bruder, meine Schwestern", "Voluntaries", "Orpheus" und "Vergessenes Land" wurden nachhaltig von ihrer fließenden Eleganz und ihrer darstellerischen Intensität geprägt. Karlsruhe droht also nicht zwangsläufig in rosa Plüsch zu versinken.

Der neue Intendant Achim Thorwald weist Publikums- oder gar kulturpolitischen Druck zur Ablösung des jetzigen Ballettdirektors zurück: "Das war ganz allein meine Entscheidung". Er hätte Pierre Wyss auf jeden Fall behalten, wenn er "von der künstlerischen Seite überzeugt gewesen wäre" und verweist auf geringste Ballett-Auslastung aller Zeiten in Karlsruhe von nur 67%. Thorwald, der zuvor in Wiesbaden mit Ben van Cauwenbergh einen ebenfalls klassisch orientierten Chefchoreografen an seinem Haus hatte, besteht nicht grundsätzlich auf Ballett: "Ich hatte damals in Münster sieben Jahre lang ein Tanztheater, und das war in Ordnung!". Er ist überzeugt, in Birgit Keil genau die passende Lösung für Karlsruhe und sein Ballettpublikum gefunden zu haben.

Dass grundsätzlich alle kündbaren Mitglieder des jetzigen Ensembles gehen müssen, wie es in der anonymen E-Mail an das koeglerjournal und zahlreiche Redaktionen stand, ist nach Thorwalds Angaben falsch. Die Anhörungen, die in den nächsten Tagen stattfinden sollen, bedeuten nicht automatisch die Nicht-Verlängerung der Verträge: "jeder, der den Qualitätsansprüchen von Frau Keil genügt, kann bleiben", so Thorwald, der damit den schwarzen Peter erstmal weitergegeben hat. Birgit Keil bleibt weiterhin Leiterin der Akademie des Tanzes in Mannheim und unterliegt damit einer Doppelbelastung, die sie durch ihren Fleiß aber locker wegstecken will.

Das große Fragezeichen steht auch nicht hinter ihrer Kompetenz als Erzieherin, die sie sicher auch als Ballettmeisterin an ihr Ensemble weitergeben wird, und ganz bestimmt nicht hinter ihrem Ehrgeiz, perfekt geprobte und ausgefeilte Vorstellungen auf die Bühne zu bringen. Es steht hinter dem Repertoire, das Karlsruhe in Zukunft tanzen will - normalerweise haben Kompanien dieser mittleren Größe von etwa 32 Tänzern einen Chefchoreografen als Direktor (die einzige Ausnahme in Deutschland ist Essen). Wohl hat Keil durch ihre Stuttgarter Tanzstiftung und bei Auftritten der Mannheimer Akademie junge Choreografen gefördert, aber die müssen für ein Staatstheater-Repertoire etwas mehr vorweisen als die hübschen Pas-de-deux-Fingerübungen bei den Galas der Tanzstiftung. Aktuelle Choreografen, die mit dem klassischen Schrittvokabular arbeiten, sind dünn gestreut, haben eigene Kompanien und sind meist auf Jahre hinaus ausgebucht (selbst dann, wenn Birgit Keil sie persönlich kennt). Ebenso rar sind die Regisseure, die russische Handlungsballette wirklich gut einrichten können - Patrice Bart in Berlin oder Ray Barra in München zeigen, dass das selbst an großen Häusern munter daneben gehen kann. Die amerikanischen Klassiker werden zwar endlich etwas freizügiger vergeben, sind aber mit hohen Kosten und strengen Auflagen verbunden.

Wohl kann Keil beste Verbindungen und Bekanntschaften vorweisen, auch zu den Ballettkulturen Osteuropas, und vielleicht wird sie sich ja selbst an der Einrichtung eines Klassikers versuchen. In einem Interview beklagt sie heute, dass sich Karlsruhe die Cranko-Ballette niemals werde leisten können - wohl wissend, dass sie diese Choreografien vom Stuttgarter Rechte-Inhaber nie bekommen würde. Das muss nicht einmal Schikane sein, sondern ist in dem Fall verständlich: warum sollte sich das Stuttgarter Ballett sein Publikum abgraben lassen, Karlsruhe liegt gerade mal eine Fahrtstunde entfernt. Ein Synergie-Effekt zwischen den beiden Staatstheater-Kompanien dürfte auszuschließen sein – nicht ungern wird sich die ehrgeizige Birgit Keil zu einem Konkurrenzunternehmen für ihre ehemalige Heimat hochstilisieren lassen.

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