Schweriner Staatstheater:

Letzter Tanzabend der Spielzeit am Staatstheater Schwerin

Schwerin, 15/07/2002

Kein Tanzabend nur zum entspannten Genießen: „Orlando is dead“ von Jean Renshaw zeigt Lebenslust und Verzweiflung angesichts Aids, Stefan Haufes „Die Hochzeit der Cellistin“ entwickelt Spannung durch ständig sich verändernde Formen im Raum, gestaltet mit schwarzen, beweglichen Kuben. Die Musik tönt aus Lautsprechern. Herzlicher bis stürmischer Beifall der offenkundig angeregten Zuschauer bei der letzten Vorstellung der Spielzeit 2001/02 im Großen Haus. Ballettchef Haufe hat sich in den sechs Jahren seiner Arbeit in Schwerin unter schwierigen Bedingungen ein Publikum herangezogen, das nicht nur zur populären Carmen-Suite oder dem Knaller „Carmina Burana“ erscheint, sondern auch bei scheinbar spröderen Produktionen auftaucht.

Seit der Wende ist der Sparzwang Normalzustand am Schweriner Staatstheater. Zwar wurde bisher noch nicht, wie in Rostock, der Ruf laut, die ganze Einrichtung zu schließen, aber in sicherem Fahrwasser schwamm die Bühne nie: Zu uneins waren und sind sich die bettelarme Stadt Schwerin (100 000 Einwohner) und das finanziell schmalbrüstige Land Mecklenburg-Vorpommern, wer wie viel Geld aufbringen soll für das einzige Staatstheater im Lande. Seit August vergangenen Jahres wird das Haus durch eine gemeinnützige GmbH betrieben, Geschäftsführer und Generalintendant ist Joachim Kümmritz, Gesellschafter sind die Stadt Schwerin und Land. Das Theater ist verankert in der Region: Mehr als 200 000 Besucher zählte man in der Spielzeit 2000/01.

Selbstverständlich schlägt die Finanzknappheit auch auf das Ballett durch: Mit 21 Ensemblemitgliedern hat Stefan Haufe in der Saison 1996/97 als Ballettchef am Staatstheater Schwerin begonnen. Inzwischen ist seine Truppe auf 18 geschrumpft: Drei Positionen, darunter die Stelle des Ballettkorrepetitors, fielen dem Sparzwang zum Opfer. Verglichen mit dem Orchester ist Haufe relativ gut weggekommen: Es schrumpfte von einst gut 100 auf 68 Mitglieder in der Spielzeit 2002/03. Für große Musikproduktionen werde das Orchester jeweils aufgestockt, sagt Pressesprecherin Christiane Wildermuth. Insgesamt 57 Stellen seien im Hause beim Übergang zur neuen Spielzeit weggefallen. Das sei aber schon längere Zeit bekannt gewesen, also keine überraschende Aktion. Sie beziffert den Etat der vergangenen Saison auf 42 Millionen Mark, davon 31,4 Millionen Mark Subventionen. Vier Jahre zuvor verzeichnete der Theateralmanach noch 33 Millionen Mark Subventionen.

Dem Tanzrepertoire-Gedanken Haufes kommt die Reduzierung nicht entgegen. Es wird schwieriger, mit weniger Tänzern gut laufende, erfolgreiche Stücke wie seine Carmina Burana wiederaufzunehmen. Ausfälle durch Erkrankungen und Verletzungen können kaum noch aufgefangen werden. Je Spielzeit werden bisher zwei Tanzproduktionen im Großen Haus herausgebracht, eine mit Orchester, eine mit Tonband, dazu die alljährliche Tanzwerkstatt im E-Werk, einer Spielstätte mit 99 Plätzen. Um die 50 reine Tanzvorstellungen bestreitet Haufes Ensemble je Saison. Etwa die gleiche Zahl entfällt auf Mitwirkungen in Oper, Operette und Musical. In der Spielzeit 2001/02 wurden zudem Gastspiele in Minden, Braunschweig, Leipzig und Cottbus absolviert.

Haufe will trotz allem in Schwerin bleiben, die Stadt und das Arbeitsumfeld gefallen ihm: „Bisher habe ich keine Probleme gehabt, meine Wünsche erfüllt zu bekommen“, lobt er das Entgegenkommen der Intendanz. Seit Anfang des Jahres 2002 steht ihm nach Jahren der Provisorien ein neuer Ballettsaal zur Verfügung. Die Zuschauerzahlen haben sich beim großen Tanzabend mit Orchester, der auch im Abonnement läuft, bei mehr als 70 Prozent eingependelt. „Wir liegen bei den Sparten hinter der Operette an zweiter Stelle“, so Haufe, „und langfristig möchte ich auch die Produktion, bei der die Musik vom Tonband kommt, ins Abonnement hieven“, hat er sich vorgenommen.

Die Qualität ist da. Über die Jahre hat sich Haufe entwickelt, vermag er inzwischen auch in abstrakten Abläufen Spannung zu erzeugen und zu halten wie in „Hochzeit der Cellistin“, dessen Titel nichts über den handlungslosen Inhalt aussagt. Den brachialen Schlagorgien der „Les Tambours du Bronx“ aus Nevers setzt er anfangs brav klassisch grundiertes Schrittrepertoire entgegen, um sich dann nach und nach zu moderneren Bewegungen und größerer Dynamik zu steigern. Immer schneller stapeln, schieben, stoßen die Tänzer und Tänzerinnen die schwarzen Kästen auf der Bühne zu Diagonalen, Türmen, Toren, immer intensiver, halsbrecherischer werden die Kuben als schiefe Rutsch-Ebenen, Kletterhügel, als Anspringflächen genutzt. Elegien für Cello solo (Reinhard Lippert) sind eingeschoben, die Kathrin Georgi - im weißen Rüschenkleid wie eine kostbare Porzellanpuppe wirkend - mit sonorem Ton sehr präsent spielt, sitzend auf einem beweglichen Podest, das einmal hier, einmal dort auf die Bühne gleitet. Das wirkt wie Atemholen vor den krachenden Schlagorkanen. Das 14-köpfige Ensemble bringt die Energie unvermindert über die Rampe.

Jean Renshaw baut in „Orlando is dead“, 1994 kreiert, vorn und hinten gefüllte Wasserbecher in je einer quer über die Bühne laufenden Linie auf. Darüber steigen die Tänzer und Tänzerinnen mit aller Vorsicht: Wasser als Lebenselixier. In der Bühnenmitte entwickelt Renshaw zu Steve Reichs „Tehilim“ in aufeinander folgenden Pas de deux entspannte Fröhlichkeit. Plötzlich fällt Orlandos Glas von einem Tablett und leert sich. Bis zum Umfallen versuchen Freundin und Freund ihm nahe zu kommen, ihm zu helfen. Das zieht sich und wird zäh. Vergeblich schöpft Orlando Wasser aus Pfützen am Boden, sein Becher bleibt leer. Er stürzt, stirbt, Dvoraks Mondlied der Rusalka schwebt über ihm. Zwei Putzmänner konterkarieren die Gefühlsabgründe, beseitigen die Spuren der Wasserschlacht. Trotz des manchmal allzu offensichtlichen Bemühens ist dies ein eindrucksvolles Werk.

Nicht zuletzt dank Nikolay Georgiew , der den Orlando völlig unsentimental darstellt, die Verzweiflung nicht dick aufträgt. Als Freund agiert Jens Nater, seit mehr als zehn Jahren am Hause, kraftvoll strikt aus der Bewegung, verzichtet er auf aufgesetzten Ausdruck. Davina Kramer bleibt als Freundin eher blass und kühl, führt aus, statt zu gestalten. In beiden Stücken ist allerdings Tamae Moriyama die auffallendste Tänzerin: Sie phrasiert sehr sauber, ohne den Fluss der Bewegungen zu brechen und beeindruckt mit einer starken Bühnenpräsenz.

Georgiew verlässt Schwerin zum Spielzeitende. Die guten Leute zu halten, bereitet manchmal Mühe. „Wir können nur eine relativ niedrige Gage von weniger als 2000 Euro zahlen“, bedauert Haufe. Westliche Bühnen vergleichbarer Größe bieten da mehr. Ganz handfest zeigt sich das, wenn, wie geschehen, zwei Tänzer nach einem Vortanzen zugesagt haben, um dann doch ein paar Wochen später wegen eines finanziell besseren Angebotes abzuspringen.

Abendfüllende Handlungsballette sind eher die Ausnahme bei Haufe. Für die kommende Spielzeit plant er für September dennoch eines: Don Quichote „komplett zeitgenössisch“ (Haufe), also nicht auf Spitze mit den bekannten Bravourstücken, sondern auf halber Spitze. Die Figur des Don Quichote soll aufgewertet werden. Die Musik holt sich Haufe gleichwohl von Ludwig Minkus.

„Carmina Burana“ werden zusammen mit „Verklärte Nacht“ (von Richard Wherlock, Basel) wieder aufgenommen, Gabriel Sala als Gastchoreograph erzählt ab Mai 2003 die „Geschichte des Tangos“, im E-Werk werden bei „Best of ...“ die Highlights vergangener Jahre vorgeführt.

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