Wiederaufnahme von John Crankos „Onegin“

Zu den Debuts von Maria Eichwald, Barbora Kohoutková und Lukas Slavický

München, 24/10/2002

Als vier Jahre nach der Abschiedsvorstellung von Konstanze Vernon (mit ihr selbst als Gutsherrin Larina, Ivan Liška als Onegin und Judith Turos als Tatjana) jetzt erstmals wieder die vertrauten Tschaikowsky-Melodien erklangen, da lag es nicht nur an dem von Myron Romanul schwungvoll dirigierten Staatsorchester, dass dieses Werk so frisch wirkte. Vielmehr erblickte man bereits in der ersten Szene eine Olga, die mit Barbora Kohoutková ideal besetzt war. Die neu engagierte Solistin verlieh dem Nähkränzchen um Madame Larina (viertes Debut: die allseits versierte Beate Vollack) eine lebendige Charakteristik und bildete im weiteren Verlauf mit ihrer tänzerischen Kultur ein verspieltes Zentrum des Geschehens. Dabei garantierte ihre strahlende Aura, dass man für die sich zärtlich entwickelnde Liebe zwischen ihr und Lenski große Anteilnahme empfand. In Lukas Slavický, der u. a. von Egon Madsen vorzüglich vorbereitet worden war – wie man am Sonntag vorher in einer Masterclass sehen konnte – hatte sie einen Partner, der viel Energie in Petto hatte, ohne Präparationen auskam und zu Gunsten glaubhafter Natürlichkeit Sprünge und Pirouetten dezent in sein Rollenspiel integrierte. So stellte dieses glückliche Paar, das nur durch ein Versehen am Leben scheitert, den dramaturgisch wertvollen Kontrast zum unglücklich verliebten Hauptpaar vorzüglich dar. Denn Kohoutková fand auch den schmalen Grat, auf dem Olgas Leichtfertigkeit liebenswert anmutet, und Slavický spielte den Lenski so jugendlich unmittelbar, dass man dessen unbeholfen harsche Reaktion auf die Provokation durch Onegin als sympathische Ehrenhaftigkeit akzeptieren musste. Dass in diesem Lenski aber weit mehr als solche Äußerlichkeit steckt, zeigte er sowohl im ausdrucksstark fließenden Pas de deux mit Olga, als auch im klar angelegten Largo seines Sterbe-Solos.

Schon in der Schilderung dieses zweiten Hauptpaares klingt an, warum John Crankos „Onegin“ als Publikumsmagnet auch in München zu den wichtigsten Säulen des Repertoires zählt. Völlig evident wird das beim Blick auf Tatjana und Onegin. Maria Eichwald begann als eine Tatjana, die sich wissend mit ihrem introvertierten Temperament bescheidet, angesichts Onegins aber in ihrem Innersten entflammt wird. Hinreißend ihr Aufblühen, wenn sie von dem vermeintlich Welterfahrenen der Konversation gewürdigt wird, und ihr Verlorensein, wenn seine Aufmerksamkeit über sie hinweg ins Unbestimmte geht. Was ist das für ein Onegin? Norbert Graf spielte einen in seiner Festlegung auf das Gewohnte unsicheren, entschlussschwachen Helden, der seine latente Unlust hinter einer modisch-gepflegten Fassade versteckt hat und eigentlich Hilfe braucht. Tatjana ist vielleicht die einzige, die das fühlt.

Während ihres trügerischen Liebestraums kam aller tänzerische Überschwang allein von Eichwald. Sie wurde zu einem luftigen Traumwesen und setzte u. a. durch brillant accelerierte Touren in Crankos leidenschaftlichen Hebungen originelle persönliche Akzente. In diesem Pas de deux wurde Graf, unhörbar in seinen Sprüngen, Teil ihres Traumes. Seine kluge Zurückhaltung setzte sich in der stimmigen Interpretation eines sehr gesammelten Onegins fort, z. B. darin, wie es ihn verwirrt, was er beim Flirt mit Olga durch seine Vitalität, die er sich offenbar selten abringt, ausgerechnet am Geburtstag Tatjanas allen Freunden antut.

Einziger Einwand: Durch das Ausbleiben virtuoser Akzente in der Onegin-Rolle trat Tatjana noch mehr in den Vordergrund, als es in Crankos Choreografie bereits angelegt ist. Maria Eichwald setzte mit Spontaneität und künstlerischer Reife viele Höhepunkte: die zu grandioser Expressivität gesteigerte Schlusspose des 1. Aktes; die wachsende Verzweiflung, mit der sie auf ihrem Fest allein gegen das Ignoriert-Werden durch Onegin antanzte; die Regungslosigkeit, mit der sie nach dem Duell gegenüber dem Mann auskam, der Lenski getötet hat; die innige Vertrautheit mit dem späteren Gatten Gremin (durch Peter Jolesch nach wie vor ideal verkörpert) und die Zerrissenheit im Schluss-Pas de deux mit dem noch immer Geliebten, aus dessen Spannung sich das Publikum mit einem Beifallsorkan befreite. Man darf sich fragen, liebe Stuttgarter, denen wir dieses Werk verdanken, ob man all das, eingebettet in die Eleganz des Staatsballett-Ensembles, in Deutschland besser sehen kann.

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