Groteske Ballett-Operette

„Lulu. Eine Monstretragödie“ beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 05/12/2003

Hätten wir das gedacht? Hätten wir je erwartet, dass sich Christian Spuck nach seinen immer gesuchter wirkenden, immer verkopfteren Kurzballetten noch einmal so berappelt? Dass der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts ein derart überzeugendes, in sich geschlossenes Handlungsballett auf die Bühne stellt, so virtuos und skurril, so überraschend, mit einem so unfehlbaren theatralischen Instinkt? Es ist, als hätte das Moment einer Handlung im bisher stets abstrakt orientierten Christian Spuck den alten choreografischen Drive wieder freigesprengt und ihn auf das Niveau von „dos amores“ zurückkatapultiert, seines ersten und im Grunde bis dato einzigen wirklich großen Erfolgs.

Die neue Stuttgarter „Lulu“ ist weniger ein Tanzdrama als eine groteske Ballett-Operette, die dennoch mit Text, Gesang und Videoprojektionen an die multimediale Moderne anknüpft. Die auf zwei Stunden geraffte Handlung von Frank Wedekinds „Monstretragödie“ - Spuck beruft sich dabei auf die Urfassung der beiden „Lulu“-Stücke von 1894 - bemüht sich zwar um eine genaue Wiedergabe der Dramenhandlung, erscheint aber durch die extreme Verknappung und Verdichtung stellenweise eher als Paraphrase über „Lulu“. Und genau hier, wo sein Ballett sich vom Willen zur treuen Nacherzählung löst, setzt Spuck die Glanzpunkte, lässt zum Beispiel das brillante Stuttgarter Männer-Corps wie geile Pinguine um Lulu herumhecheln, jagt in einer grandiosen Vaudeville-Szene mehrere Lulu-Doubles und ihre Lover in einem slapstickartigen Chaos über die Tische, oder lässt Eric Gauthier ganz prosaisch die blutigen Morde von Jack the Ripper schildern - Lulus Ende als aufgeschlitzte Leiche begleitet sie von Anfang an.

Das alles findet zu schmissigen Walzern aus den Jazz-Suiten von Dimitri Schostakowitsch statt, die Spuck mit Orchesterstücken von Berg und Schönberg zu einer ironisch-absurden, erstaunlich homogenen Ballettpartitur zusammengefügt hat. James Tuggle dirigiert das ausnahmsweise beim Ballett mal gut aufgelegte Staatsorchester, eine Jazzband ist zusätzlich im ersten Stock des holzgetäfelten, nüchternen Bühnen-Ballsaals von Dirk Becker platziert. Die Andeutung der Schauplätze Berlin, Paris oder London scheint Spuck hier weniger wichtig gewesen zu sein als die Charakterisierung der Personen. Mag auch die exakte Motivation der zahlreichen Morde und Selbstmorde nicht immer bis ins Detail erkennbar sein - die Figuren sind brillant skizziert. Woran Emma Ryotts aussagekräftige Kostüme einen ebenso großen Anteil haben wie die perfekt ausgewählte Besetzung: Eric Gauthier als schmierig-virtuoser, abgebrühter Ganove Schigolch, der die Beziehungsmaschinerie immer wieder neu in Gang setzt, Jorge Nozal als schwärmerischer junger Maler, Ivan Gil Ortega als besitzergreifender Dr. Schöning und Marijn Rademaker als sein blässlicher Sohn. Jason Reilly ist der brutale Artist Rodrigo, ein schönes wildes Tier, und Jiri Jelinek ist Jack the Ripper, ein Grauen wie aus dem Albtraum und der Einzige, der Lulu nicht als Frau begehrt, sondern einfach ihr Fleisch taxiert.

Lulu ist immer wieder in Großaufnahme zu sehen: Eine Videoprojektion von Alicia Amatriains Gesicht ersetzt das ständig anwesende Lulu-Porträt aus Wedekinds Stück. Christian Spuck hat es tatsächlich geschafft, der jungen Spanierin ihre Manierismen auszutreiben - Amatriain tanzt hier so frei und natürlich wie noch nie, eine faszinierende Kindfrau in ihrem weißen Fähnchen, die arglos wie ein Mädchen mit den Männer spielt und wie ein ungreifbares Rätsel über die Bühne weht, ebensowenig fassbar wie der Wind aus dem melancholischen Nina-Simone-Song, der das Stück umrahmt. Als Choreograf gelingt Spuck die Charakterisierung seiner Figuren nicht ganz so brillant wie als Regisseur - zwar hat er sein Bewegungsrepertoire erweitert, bleibt aber insgesamt zu stark in der klaren Geometrie des klassischen Balletts verhaftet. Die tragische Größe der Gräfin Geschwitz zum Beispiel rührt eher aus Bridget Breiners leidenschaftlicher Hingabe denn aus der Aussagekraft ihrer Bewegungen.

Die neue Stuttgarter „Lulu“ mag nicht der ultimative Klassiker auf dem Niveau von Cranko oder den wenigen großen Neumeier-Werken werden, aber sie knüpft mit einer neuen, eigenen Farbe an deren Tradition an und führt sie in die Moderne weiter - viel zu zaghaft natürlich für die Verfechter des Tanztheaters oder der Forsythe'schen Dekonstruktion, aber auf die ganz spezifische Stuttgarter Art: mit viel Tanz, mit vielen guten Rollen für die bravourösen Stuttgarter Tänzer. Die Premiere war ein umjubeltes Ereignis.

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