Morgen im Fernsehen: „Der Gefesselte“ von Jan Schmidt-Garre im 3sat

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Stuttgart, 11/04/2003

Keinen Tanzfilm der üblichen Art kündigt der Fernsehsender 3sat für morgen, Samstag, um 21.45 an: „Der Gefesselte“ von Jan Schmidt-Garre nach einer Erzählung von Ilse Aichinger, die ihren Text selbst liest. Beteiligt sind der japanische Choreograf und Tänzer Saburo Teshigawara als Protagonist, dazu die Schauspielerin Corinna Harfouch und als Gast vom Royal Ballet José-Maria Tirado Nevado, weiterhin das Fitzwilliam String Quartet mit Ausschnitten aus Schostakowitschs 13., 14. und 15. Streichquartett. Eine wichtige, ausgesprochen stimmungssuggestive Rolle spielen die Naturschauplätze in der Umgebung von München.

Es geht um das Schicksal eines Mannes, der eines Morgens im Gras liegend erwacht und sich gefesselt wähnt, an einem Seil, und der sich in diesem Zustand der Behinderung peu à peu seine identitätsstiftende Bewegungsfreiheit erarbeitet und dabei seine eigene Grazie und Anmut entwickelt (Schmidt-Garre sieht darin „eine Parabel auf die Macht der Kunst, auf ihre den Menschen transzendierende Kraft. Auf die Dialektik von Freiheit und Form. Verwandt dem Marionetten-theater-Aufsatz von Kleist“). Eines Tages entdeckt ihn der Zirkusdirektor, der von ihm so fasziniert ist, dass er ihn als Attraktion in sein Programm einbaut. Dort verliebt sich dessen Frau in ihn, ohne doch in der Lage zu sein, in seine Welt einzudringen. Im Wald kommt es zu einem Kampf des Gefesselten mit einem Wolf, der ihm instinktiv nähersteht, und den er durch die Natürlichkeit seiner Bewegungen zähmt. Als die Frau schließlich seine Fesseln durchschneidet, sieht er sich zurückgeworfen aus seiner Freiheit in die Bodenlosigkeit seiner kreatürlichen Existenz, die ihn zwingt, sich erneut seine Freiheit zu erarbeiten. Er verlässt die Frau und den Zirkus.

Entstanden ist dabei ein mehrschichtiges, abstrahiertes Kunstprodukt aus Wort, Musik, Schauspielkunst und Ausdruckstanz, dessen verschiedene Ebenen einander durchdringen und zu einer neuen Symbiose zusammenwachsen, die eine eigene Faszination, eine eigene Poesie besitzt. Teshigawaras animalische, ausgesprochen exotisch anmutende Expressivität und Geschmeidigkeit, die Harfouch sich mit ihren schauspielerischen Mitteln anzuverwandeln sucht, ohne doch bis zu ihrem Kern vorzudringen, dazu die sehnige Schnellkraft des spanischen Tänzers als Wolf in dem äußert spannend choreografierten Kampf der beiden (der ein bisschen an die Kampftechniken fernöstlicher Filme erinnert): das entfaltet sich im Fluss einer natürlichen Ruhe, die die fünfundvierzig Minuten währende Aufführungsdauer des Films zu einem zeitsuspendierenden Schöpfungsmoment dehnen.

Im Anschluss an diesen Film sendet 3sat übrigens noch eine Porträtstudie Schmidt-Garres über Teshigawara, der ja bei uns hauptsächlich durch seine Arbeiten in Frankfurt und München bekannt geworden ist. Mit seinen diversen Filmen über Themen der Musik, des Tanzes und der bildenden Kunst gehört Jan Schmidt-Garre zu den ambitioniertesten und renommiertesten Fernsehregisseuren auf diesem Gebiet. Sein neuestes Opus bietet eine willkommene Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass er der Sohn von Helmuth Schmidt-Garre ist, der als Musikkritiker des Münchner Merkurs bis zu seinem Tode 1989 zu den prominentesten Vertretern seines Fachs gehörte. Zusammen mit Karl-Heinz Ruppel, seinem Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, zählte er zu den Pionieren der sich allmählich herauskristallisierenden deutschen Ballettkritik nach dem Krieg, die für sie, die beide von der Musik herkamen, noch einen ganz anderen kulturhistorischen Stellenwert hatte als das heute der Fall ist. Als Autor der 1966 bei Friedrich in Velber erschienenen Studie „Ballett. Vom Sonnenkönig bis Balanchine“ schuf er ein Standardwerk, an dem wir damaligen Novizen unsere ersten Grundkenntnisse über das Ballett erwarben. Schmidt-Garre, Ruppel, Niehaus, der Prinz zu Wied, Regner, Axel Kaun, dazu die ständig im Theatermuseum arbeitenden Mlakars ... – mein Gott, was waren das doch noch für Münchner Zeiten!

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