Stuttgarts neue „Lulu“: eine Nachlese

oe
Stuttgart, 11/12/2003

Ein derartiges publizistisches Echo hat schon lange kein Ballettereignis an einem deutschen Opernhaus mehr gehabt. Christian Spucks neue „Lulu“ hat, wie zu erwarten, die Meinungen polarisiert. Sie reichen vom Anathema-Fluch der Münchner Forsythe-Pythia (Empfehlung: „Alles, was in den vergangenen dreißig Jahren im Tanz passiert ist, vergessen!“) bis zur Reverenz ihrer Münchner Kollegin als Verkünderin der Botschaft von der Liebe zum Tanz und den Tänzern vor dem Mut des Handlungs-Nachwuchschoreografen Spuck. Im Allgemeinen überwiegen freilich die positiven Reaktionen – wie denn auch nicht, bei diesem rasanten Tanz-Spektakel.

Wen diese Tänzerinnen und Tänzer mit ihrem Elan dansante nicht elektrisieren, den müssen wir wohl für die Botschaft Terpsichores unrettbar verloren geben! Die klügsten Bedenken gegen Spucks Konzept habe ich beim sehr geschätzten Kollegen Richard Merz in der „Neuen Zürcher Zeitung“ gelesen – und ich finde sie so intelligent, dass ich ihm hier zumindest ansatzweise zu ein bisschen zusätzlicher Publizität verhelfen möchte. Merz also meint: „Nicht einmal in Ansätzen bringen die Autoren die Grundvoraussetzungen der Wedekind‘schen Tragödie auf die Bühne, nämlich Menschen, die von einer sexualfeindlichen Moral körperlich und sinnlich deformiert sind. Spuck dagegen zeigt einen Reigen von ausnahmslos dynamischen, sinnlich körpersicheren jungen Menschen. Das Ballett, das den Titel von Wedekinds Tragödie der verdrängten Sinnlichkeit trägt, wird zur tänzerischen Feier geradezu exzessiver sinnlicher Körperlichkeit.“ Voilà!

Die Frage ist dann natürlich, ob diese Thematik denn überhaupt vom Ballett oder vom Tanztheater, deren Mitglieder ja ausnahmslos „vital dynamische, sinnlich körpersichere junge Menschen sind“, realisiert werden kann. Denn wenn vielleicht auch nicht länger „vital dynamisch“ und „jung“ – „sinnlich körpersicher“ sind ja selbst noch die Tänzer von NDT 3. Ungern würde ich auf diesen Stoff im Ballett oder Tanztheater verzichten – im Gegenteil: ich freue mich schon auf weitere Vorstellungen dieser „Monstretragödie“, zumal da ja Stuttgart noch andere Besetzungen in petto hat.

Noch etwas Anderes! Ich bilde mir nicht ein, alle Kritiken über die Stuttgarter „Lulu“ gelesen zu haben – und auf die Kritiken in unseren hochmögenden Fachzeitschriften müssen wir ja ohnehin noch eine Weile warten –, aber ich habe den Eindruck, dass die Mehrzahl der Kollegen offenbar der Meinung ist, dass dies das erste Ballett überhaupt ist, das den Stoff von Wedekind aufgegriffen hat. Dem ist natürlich nicht so! Die erste, die ein „Lulu“-Ballett kreiert zu haben scheint, dürfte Tatjana Gsovsky 1956 mit ihrer „Menagerie“ (Musik: Giselher Klebe) an der Städtischen Oper Berlin gewesen sein – mit einer damals von uns sehr angeschwärmten Judith Dornys als Lulu. Zehn Jahre später kam Imre Eck mit seiner „Lulu“ im ungarischen Pécs heraus (Eck, Jahrgang 1930, war während der sechziger Jahre ein immens kreativer Choreograph und Mitbegründer des modern orientierten Ballet Sopianae – was mag aus ihm geworden sein?).

Die jüngste Variante vor Spuck gab es bei Birgitta Trommler 1998 in Darmstadt als Tanztheaterstück unter dem Titel „Gesucht: Lulu“ (Musik Philip Glass). Ja, und dann stieß ich bei den Vorbereitungen zur Stuttgarter Premiere auf Jochen Ulrichs „Lulu“ von 1990 beim Kölner Tanz-Forum, die gesehen zu haben, ich mich nicht erinnern kann. Denn hätte ich sie gesehen, wäre ich wohl ebenso hingerissen gewesen wie jetzt, als mir ein guter Geist einen Video-Mitschnitt der WDR-Fernsehproduktion von 1991 zur Verfügung gestellt hat – einen der besten Fernseh-Ballettfilme aller Zeiten, wie ich meine, vom Regisseur Bob Rooyens als Filmische Neuinszenierung realisiert. Ulrich hat sich im Gegensatz zu Spuck sehr eng an die Wedekind-Vorlage gehalten, sie aber mit seiner Dramaturgin Dietlinde Rank leicht surrealistisch verfremdet – zu fabelhaft stimmiger Musik von Nino Rota, mit einer ästhetisch auch farblich berückenden Ausstattung von Kathrin Kegler und Marie-Theres Cramer.

Verblüffend die exakte Charakterzeichnung der Personen (weit überlegen den von Spuck hingestrichelten Skizzen). Staunenerregend der choreografische Reichtum und die Detailgenauigkeit der so verschiedenartigen Milieus und ihrer Akteure. Sensationell die Verwandlungen, die Darie Cardyn als Lulu durchmacht. Tief bewegend die individuellen Schicksale der Charaktere – und was für Charaktere waren das: Marie Louise Jaska als Gräfin Geschwitz, Ralf Harster als Schigolch, Leszek Kuligowski als Dr. Schön, Darrel Toulon als Alwa, Athol Farmer als Rodrigo, Richard Wherlock (kurz behost) als Gymnasiast und, und, und … Das muss wohl Ulrichs beste Produktion überhaupt gewesen sein, die mich in manchem an seinen von mir sehr positiv erinnerten „Wunderbaren Mandarin“ erinnert, ihn aber an inszenatorischem Raffinement noch übertrifft. Ich kann nur jedem empfehlen, sich einen Video-Mitschnitt dieser sensationellen „Lulu“ zu besorgen!

Kommentare

Noch keine Beiträge