Der Größte von allen?

Ein Nachwort zum Kopenhagener Bournonville-Festival

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Stuttgart, 15/06/2005

Neun Handlungsballette von August Bournonville (1805 bis 1879), alle inzwischen in mehrfach revidierter, aber nie radikal gegenüber dem Original veränderter Form, alle in besterhaltenem Zustand, präsentiert in acht Vorstellungen beim 3. Bournonville-Festival in Kopenhagen – dazu noch ein paar Einzelstücke aus Bournonvilles umfassendem Repertoire: welche andere Kompanie in der Welt kann in puncto Klassikerpflege damit konkurrieren? Wo gibt es ein vergleichbares Kompaktangebot in dieser Qualität? Und diese Ballette werden geliebt – von den Tänzern, die, von erfahrenen Ballettmeistern angeleitet, sich die größte und durchaus erfolgreiche Mühe geben, sie in ihrer Stilreinheit zu bewahren – und vom Publikum, das auch in der 780. Aufführung für ein ausverkauftes Haus sorgt. Und das seit anderthalb Jahrhunderten!

Dabei handelt es sich um höchst lebendige Vorstellungen, die kein bisschen Staub angesetzt haben. Ein Wunder! Das Schönste an diesen Balletten ist, dass sie pure Lebenslust verströmen – und das, obgleich sie unübersehbar in ihrer Zeit verwurzelt sind – einem sehr spezifisch dänischen Biedermeier, das unserem Lebensgefühl diametral entgegengesetzt ist. Und das, obgleich sie einen Wertekatalog repräsentieren, der heute vielen obsolet erscheint: Treue, Güte, Mitmenschlichkeit und die christliche Tugend der Barmherzigkeit. So wirken sie für diejenigen, die dafür empfänglich sind, wie ein Reinigungs- und Verjüngungsbad. Man geht aus ihnen heraus und wähnt sich ein besserer Mensch! Ich glaube nicht, dass es je in der Vergangenheit einen Choreografen von einer derartigen Vielseitigkeit der Begabungen und Interessen geben hat – einen Ballettmann, der von einer unglaublichen Fürsorge für seine Untergebenen erfüllt war – sowohl für die jüngsten der Schüler wie für die reifsten seiner Tänzer, einen scharfer Analytiker seiner Kunst, dabei ein treu sorgender Vater seiner großen Familie, Freund und Diskussionspartner prominenter Intellektueller, Musiker, Zeichner und Maler, aufmerksamer Beobachter der Politik und der Weltgeschichte, dazu ein großzügiger Gastgeber, der immer gern Freunde um sich hatte – dabei bei aller Weltaufgeschlossenheit ein patriotischer Däne.

In seinen fast fünfzig Jahren als Ballettmeister des Königlich Dänischen Balletts kreierte er an die fünfzig Ballette, die alle seinen ganz persönlichen Stempel tragen. Was haben Noverre und Angiolini, was Taglioni, Coralli, Perrot und Saint Léon, was Petipa und Iwanow dem entgegenzusetzen? Ich meine, dass dieses 3. Kopenhagener Bournonville-Festival weit über die Bedeutung der beiden ersten Festivals von 1979 und 1992 der internationalen Wertschätzung Bournonvilles einen enormen Auftrieb versetzt hat. Zu verdanken ist das nicht zuletzt der souveränen und fabelhaften Organisation von Frank Andersen und seinem Stab von Mitarbeitern, für die kein Lob zu hoch gegriffen ist (besonders erwähnen möchte ich da den überaus kooperativen Pressekoordinator Thomas Beck Soerensen und nicht zuletzt den ja auch bei uns verschiedentlich tätigen Historiker Knud Arne Jürgensen). Ihnen allen gilt unser aller Dank – und wenn ich von uns spreche, so weiß ich mich einig mit den Kollegen aus aller Welt, von denen ich nie zuvor so vielen gleichzeitig am gleichen Ort begegnet bin.

Glückliches Dänemark, das sich durchaus bewusst ist, was für einen kulturellen Schatz es in seinem Bournonville-Erbe besitzt, und was für eine Verpflichtung ihm dieses Weltkulturerbe auferlegt, das denn auch mit ausgesprochener Liebe gepflegt wird. Und noch eine Schlussbemerkung: Entgegen der bei uns durch ein paar eher beiläufige Zeitungsberichte entstandenen Meinung, dass John Neumeiers abendfüllende Kopenhagener Ballettkreation „Den lille Havfrue“ ein eher durchwachsener Erfolg war, wurde mir von verschiedenen Persönlichkeiten der lokalen Ballettszene versichert, dass „Die kleine Meerjungfrau“ nicht nur ein ausgesprochener Publikums-, sondern auch ein eindeutiger Presseerfolg war (mit allein acht Vorstellungen im neuen großen Opernhaus, angekündigt für September).

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