Von der Vorstadt-Idylle in den Puff

Jochen Heckmanns Neuinterpretation der „Giselle“

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Augsburg, 12/02/2005

Seit ihrer Gründung im Jahr 1982 in Stockholm befindet sich die Partei der Ballett-Linken in ständigem Aufwind. Ihr stärkstes Kontingent stellt nach wie vor die „Giselle“-Fraktion mit ihrem Gründervater Mats Ek an der Spitze. Dicht aufgeschlossen folgen die „Nussknacker“-Spezies – aber auch die „Schwanensee“-Abordnung kann auf ständig wachsende Mitgliederzahlen verweisen (siehe auch das Gastspiel des Australian Dance Theatre, mit „Birdbrain“ kürzlich in Ludwigsburg). Dagegen dümpelt die „Dornröschen“-Splittergruppe noch vor sich hin und scheitert bisher an der Fünf-Prozent-Hürde.

Jüngster Zugang ist der Augsburger Jochen Heckmann, der sich der „Giselle“-Fraktion angeschlossen hat. Seit 1999 Chef des Fugger-Ballett-Theaters, hat er die Augsburger in diesen Tagen mit einer „Giselle“ aus den Vorstädten beglückt, deren Dramaturgie von Pasolini stammen könnte. Denn nicht etwa das BMW-Steueraufkommen dominiert die Reihenhaus-Idylle unter dem Starkstrommast (Bühnenbild Herbert Buckmiller), sondern die Tristesse der Zukurzgekommenen, unter denen Giselle als Geschöpf ihres zuhälterischen Bruders Hilarion (ein kraftstrotzender Rocker-Typ: Daniel Zaboj) leidet. In sie bricht Albrecht nach einer Autopanne mit seiner städtischen Clique ein. Es ist Liebe auf den ersten Blick zwischen dem naiven Vorstadt-Girlie und dem sophisticated Lover aus dem Playboy-Milieu.

So weit geht alles gut. Auch mit der Partitur von Adam und Burgmüller, zwischen deren Nummern munter hin und her gesprungen wird (Dirigent: Henning Kussel). Mit treusorgender Mutter (Ursula Frühe: offenbar eine weitläufige Verwandte von Pina Bausch) und burschikoser Freundin André (Serena Pettinari) – auch ohne mütterliche Vorahnungen. Allerdings sind da die überlangen Pausen, in denen die Handlung immer wieder zum Stillstand zu kommen scheint. Schon beim musiklosen Beginn mit der Leiche Giselles, die von den Entsorgungsdienstleistern weggekarrt wird. Das Ende des ersten Aktes lässt Giselle noch mal davonkommen (mit fulminantem Fight zwischen Hilarion und Albrecht). Bruder Hilarion verfrachtet seine Schwester sodann in die städtische Maison Rouge von Madame M. (Agnieszka Dlugoszewska). Zunächst nur als Putzhilfe, doch dann als unfreiwillige Novizin der von Wilis zu willfährigen Liebesdienerinnen mutierten Profi-Damen des Etablissements. Das aber kann ihr – wie Alfredo in „La traviata“ – ihr rettungsmissionarischer Albrecht nicht vergeben. Und so scheitert ihrer beider große Liebe und sie stürzt sich – wie weiland Tosca –in die Tiefe. Aber da geht auch schon der Vorhang zu.

Heckmanns Modern-Dance-Choreografie besticht vor allem im ersten Akt durch ihre Musikalität, besonders in den rustikalen Arbeiter-Ensembles im ersten Akt. Und in den kess arrangierten Soli für Freundin André. Verstört aber auch immer wieder durch ihre endlos langen musiklosen Übergänge. Und wird dann vollends unglaubwürdig – und langweilig – in den Wilis-Auftritten der Damen des horizontalen Gewerbes, deren Choreografie aus einem Toulouse-Lautrec-Musical in einer provinziellen Aufführung stammen könnte (allerdings nicht in der Choreografie von Michael Kidd oder Hermes Pan). Eine hübsche, in der dritten Vorstellung freundlichst applaudierte Produktion des ambitionierten Augsburger Ballett-Theaters. Von allen Beteiligten sichtlich engagiert getanzt, mit einer anrührenden Giselle (Adriana Mortelliti, die auch die Kostüme entworfen hat) und einem eleganten Albrecht (Alfredo Garcia Gonzalez – entschieden der beste Tänzer der Kompanie). Die DNA-Analyse der Originalvorlage blieb allerdings ergebnislos. Doch Augsburg darf sich nunmehr zu einem Stützpunkt der Ballett-Linken rechnen!

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