Höllenvisionen aus der Diskothek

André Gingras' Tanzstück „Nel foco che gli affina“

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Nürnberg, 03/02/2006

Und noch ein Kanadier! André Gingras, 38 Jahre alt, den Daniela Kurz für ihr Tanztheater Nürnberg entdeckt hat. Dort hat er am 14. Januar im Schauspielhaus „Nel foco che gli affina – Reinigende Feuer“ zur Uraufführung gebracht – ein einstündiges Tanzstück, das sich auf Dante beruft. Es geht um die Hölle – hier noch nicht unterschieden in die Bereiche Fegefeuer und Hölle pur. Für eine Beschreibung des Stücks verweise ich auf die im tanznetz veröffentlichte Kritik aus der Nürnberger Zeitung vom 18.1.2006.

Zunächst Hölle! Die sucht der Autor ziemlich allgemein in unserer Gegenwart. Die 16 Tänzer sind durchaus unsere Zeitgenossen (aber eben nur ein Drittel so alt wie ich), jedenfalls so definiert von Gingras, der als seine engsten Mitarbeiter Sue Jane Stoker (Dramaturgie), Pink Steenvoorden (Bühne und Licht) und Jürgen De Blonde (Auftragskomposition) nennt – in Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern (insgesamt 16).

Die Freitagsvorstellung ist ordentlich besucht, das Haus zu etwa zwei Dritteln gefüllt, der Beifall am Schluss einhellig (zwischendurch nur zögernd). Die Hölle stelle ich mir allerdings ganz anders vor: grauenhafter, angsterregender. Die hat Béjart in seinem Drei-Personen-Stück nach Satre „Huis Clos“ schön in den fünfziger Jahren wesentlich beklemmender geschildert: „Die Hölle, das sind die anderen“. Gingras‘ Hölle ist eher die Hölle der heutigen Diskotheken – mit diesem aufgeblasenen Sound, diesem ständigen Gequatsche und forcierten Songeinlagen. Ich verstehe nichts, allenfalls Bahnhof und kann partout kein reinigendes Feuer entdecken.

Ich gebe indessen gerne zu, Zeitzeuge eines fulminanten tänzerischen Spektakels gewesen zu sein, in dem ich mich keine Minute gelangweilt habe. Ich habe mich allerdings gefragt: wieso gibt sich das heutige Publikum mit solchen Sechzig-Minuten-Produktionen zufrieden, für die es doch den vollen Preis entrichtet hat? Ja, das waren noch Zeiten, als das Publikum in St. Petersburg in der gleichen Vorstellung eine Tschaikowsky-Oper und anschließend die Uraufführung des „Nussknacker“ geboten bekam. Fast nur noch Pina Bausch bringt es mit ihren Stücken auf drei Stunden Spieldauer. Doch wie dem auch sei: die neue Nürnberger Produktion ist furios – sie tobt Nonstop an einem vorüber: klar strukturiert, indem der Schluss wieder an den reigenartigen Beginn anknüpft – mit dynamitgeladenen Molto-assai-Episoden, die durch zeitlupenhaft verlangsamte Abschnitte kontrastiert werden.

Diese Allegro-Nummern sind süperb, von einer ganz unglaublichen Energie und entsprechendem Drive, und sie verlangen von den Nürnberger Tänzern eine akrobatisch-artistische Virtuosität auch im Hip-Hop und anderen aktuellen Streetdance-Techniken ab, die größte Bewunderung verdienen, und die von den Nürnbergern mit einer Bravour hingefetzt werden (und mit einer ganz unglaublichen Risikobereitschaft, denn das Verletzungspotenzial ist enorm), die mich als Zuschauer ebenso atemlos lässt wie die Tänzer auf der Bühne. Ich habe so etwas nicht mehr erlebt seit meiner Erstbegegnung mit „West Side Story“ in der Londoner Produktion irgendwann in den sechziger Jahren.

Und das Breakdance-Solo mit interpolierten Klassikerschritten qualifiziert seinen Ausführenden eindeutig zum Tänzer der bisherigen Spielzeit: Moritz Ostruschnjak – trotz des polnischen Namens Deutscher, geboren in Marburg, 23 Jahre alt, startete als Break-Dancer und wurde ausgebildet bei Iwanson in München und in der Mudra-Schule Béjarts. Eine Stunde Nürnberger Tanztheater: Ich habe nichts verstanden, aber ich war hingerissen von dem tänzerischen Furor, der da über die Bühne des Schauspielhauses tobte. Ein jüngerer Kollege würde wohl sagen: echt geil!

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