Das „Heimat/Moroccan Project“ von Alonzo King

Eröffnung von Movimentos 2006

Wolfsburg, 30/04/2006

Welche Tänzer/innen! Das zehnköpfige Alonzo King‘s LINES Ballet aus San Francisco – sechs Frauen, vier Männer – zündet ein Feuerwerk an lässig hingelegten vielfachen Pirouetten, vierfachen Attitude-Drehungen, hohen Sprüngen, bestens platzierten Posen, 180-Grad-battements à la seconde und makellos ausgeführten Pas de deux – ohne Spitzenschuhe zu strapazieren. Wie man einen Körper „modern“ in sich verknäult, in alle Richtungen gleichzeitig auseinander zieht, im Block komplizierte Verschiebungen koordiniert, demonstrieren sie dazu ebenso überzeugend wie ununterbrochen geschmeidige Folgen vertracktester Bewegungen. Jede(r) ein(e) veritable(r) Solist/in. Dem Publikum im Wolfsburger Kraftwerk bleibt bei der Eröffnungsvorstellung der Movimentos 2006 manchmal die Spucke weg, bei einigen besonders virtuosen Schaustücken entlädt sich seine Begeisterung in spontanem Szenenapplaus. Die synchronen Gruppenabläufe gehen allerdings kaum jemals reibungslos über die Bühne, immer klappern einige nach, sind zu früh, zu spät, heben etwa die Arme hoch, wenn die anderen sie schon gesenkt haben.

„Heimat“ heißt das Einleitungsstück, eine wahrhaftige Uraufführung für die Movimentos. Choreografiert hat es Alonzo King, der es ursprünglich „Tip“ nannte, dann jedoch die Änderung vollzog, als er vom Movimento-Leitmotiv „Heimat – Mutter Sprach Vater Land“ erfuhr. Titel als beliebig austauschbare Fassade?! Der Untertitel „The Hierarchical Migration of Birds and Mammals“ verrät Wortwitz, gibt aber keine streng gegliederte Dramaturgie vor, eher rollen Momentaufnahmen ab, oft formverliebt ohne die Konturenschärfe eines Ausdrucks. Sehr selten funkt es emotional zwischen Partnern, meist wird das Programm mit einer gewissen Glätte perfekt abgespult.

Jazzlegende Pharoah Sanders growlt auf seinem Tenorsaxophon die raue Eröffnungssequenz, an einen Vogelruf erinnernd. Mit den folgenden Streicherklängen, Vogelschreien, Chorstimmen, verschmilzt Sanders improvisierte Linien, die sich total der jeweiligen Stimmung anpassen, sei sie noch so süßlich. Selten setzt King Tierartiges wie Hüpfen auf zwei Beinen, Hände wie Vogelschnäbel, Arme wie Flügel ein. Er scheint den (zu) direkten Bezug zum Untertitel meiden zu wollen. Im sorgfältig gesetzten Lichtdesign (Axel Morgenthaler) wirken die Frauen, gekleidet in Oberteil und kurzem Rock (Kostüme: Colleen Queen/Robert Rosenwasser), und Männer (Hemd und eng anliegende Boxershorts) manchmal wie exakt im Raum verteilte kostbare Ausstellungsfiguren, weniger wie Menschen (Tiere) aus Fleisch und Blut. Zum Schluss baumelt von oben ein Strickleiter herab, getaucht in Sonnenschein, ein Mann hangelt sich langsam hoch, eine Frau folgt zur verkitschten, angeklebten Apotheose.

Im folgenden „The Moroccan Project“ zu traditioneller marrokanischer Musik scheint sich King wieder einer etwas oberflächlichen Bewegungssprache zu bedienen, die zur Musikvorlage kaum eine Verbindung aufzeigt. Kurz nur zieht eine Art Karawane im Hintergrund vorbei bis zu einer Mauer, an der sich einzelne entlang hangeln. Bis langsam die Stimmung umschlägt: Zwei Männer heben eine Frau, die mit den Füßen grob nach unten tritt; eine Fünfergruppe bewegt sich im Block, aus dem einzelne hervorbrechen, Hände auf einer Hüfte, die sich durch Druck verdrehen; ein Mann ruckt animalisch mit seinem Oberkörper: Da entsteht ein eigenartiges archaisches Fluidum. Vier Männer verhaken sich ineinander, bilden eine Mauer, die eine Frau halb komisch, halb verzweifelt durchbrechen will. Als sie die Männerriege besteigt, bricht das Bollwerk zusammen, liegen die Männer am Boden – um sich gleich wieder zu erheben und die Mauer neu zu bilden. Emanzipationsversuch der Frau gegen den Widerstand der Männer? Dazu streut King Nummern ein, in denen die rasante Schnelligkeit und Virtuosität auf die Spitze getrieben wird: beifallumrauschte Showstopper. Die Mischung fasziniert über weite Strecken, besonders weil die exzellenten Tänzer/innen durch ihren Einsatz über leer laufende Sequenzen hinweg tragen. Eine durchgehend konturenscharfe Choreografie zeichnet beide Stücke nicht aus.

 

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