Tor! Tor! Tor!

Zum hundertsten Geburtstag von Igor Moissejew

oe
Stuttgart, 23/01/2006

Alle Welt spricht (in Deutschland) nur noch von der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft. Da wollen die Ballettfans natürlich nicht im Abseits stehen und fiebern der Premiere von Deborah Colkers „Maracanã“ übermorgen auf Kampnagel entgegen, ihrem Tanzspektakel über das legendäre Fußballstadion von Rio de Janeiro. Ob sie dann am Ende wohl auch „Tor! Tor! Tor!“ schreien werden wie weiland 1954 in Bern? Und ob sich wohl jemand bei dieser Gelegenheit noch daran erinnern wird, dass die Welt – jawohl, die ganze Welt und nicht nur die Soccers der Hamburger Neumeier-Mannschaft – sich schon vor mehr als einem halben Jahrhundert für ein „Futbolist“-Ballett begeisterte – von einem gewissen Igor Alexandrowitsch Moissejew.

Moissejew wer? Die Frage scheint nicht ganz unberechtigt, denn der scheint der Welt abhandengekommen zu sein, obgleich er doch vorgestern seinen hundertsten Geburtstag feierte. Wie und wo und in welcher körperlichen Verfassung: ich weiß es nicht. Vielleicht ist er ja in Moskau gebührend gefeiert worden – jedenfalls scheint er noch am Leben zu sein. Bei uns im Westen habe ich keinen Hinweis in den Medien entdecken können – bei uns in Deutschland nicht, was mich nicht weiter wundert (obgleich er doch damals, in den fünfziger bis in die achtziger Jahre mit seinem nach ihm benannten Ensemble nicht nur in der DDR in den Himmel gehoben wurde) – doch auch nicht in den einschlägigen Fachmagazinen in England und Amerika. Sic transit gloria mundi!

Jedenfalls feierte er, der noch ein Schüler von Gorsky und Tichomirow und dann Tänzer beim Bolschoi-Ballett war, und der 1930 zu choreografieren begann, spektakuläre Triumphe als Charaktertänzer (1925 auch in der Titelrolle von Goleisowskys berühmtem Ballett „Joseph der Schöne“), wurde dann 1937 Gründer und Künstlerischer Direktor des nach ihm benannten Volkstanz-Ensembles der Sowjetunion, mit dem er nach dem Krieg dann um den ganzen Globus ständig auf Tournee war. In der amerikanischen „International Encyclopedia of Dance“ sind ihm auf drei Seiten immerhin fünf Spalten und drei Fotos gewidmet, wird er ausgiebig als ein multitalentierter Choreograf gefeiert, der in allen Gattungen zu Hause war, also nicht nur im Volkstanz, sondern auch als Klassiker (als der er 1966 auch der Gründer des später so benannten Jungen Balletts und Moskauer Klassischen Balletts war).

Die letzten Kritiken über Auftritte der Moiseyev Dance Company in London und New York entdeckte ich im Juni und im Dezember 2002 im amerikanischen Dance Magazine und in der englischen Dancing Times. Sie waren überaus enthusiastisch, und selbst Clive Barnes, der sie liebevoll als „granddaddy of all the innumerable folklorist ensembles, that have ever flourished“ feierte, bescheinigte ihr, die so viele andere Kompanien bis hin zu Irlands Riverdance inspirierte: „The Moiseyev Company is still the best, while the nonagenarian Moiseyev remains by a long chalk the greatest choreogreapher ever to immerse in the dances of the people. His imaginative stylizations of their dances are matchless in their style and theatrical.“ Wahrlich ein Grund, ihm zu seinem Hundertsten zu gratulieren! Nicht zuletzt damit jemand, nach ihm im Internet suchend, nicht nur auf Nikolai Moisejew, den stellvertretenden Leiter der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos stößt.

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