Zersplitterte Positionen

Das Buch „Methoden der Tanzwissenschaft” fasst einige aktuelle Ansätze der Tanzforschung zusammen

Berlin, 03/11/2007

Unter Leitung der beiden Forscherinnen Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein fand im Januar 2006 in Hamburg ein Kongress zur Methodik der Tanzwissenschaft statt. Spezialisten unterschiedlichster Fachrichtungen – von der Bewegungsnotation über die Kunstgeschichte bis hin zur Medienanalyse – waren zusammengekommen, um über die Grundproblematik dieser relativ neuen universitären Disziplin, die Übertragung von Bewegung in Sprache, zu diskutieren.

Als Grundlage der Darstellung der unterschiedlichen Forschungsansätze diente Pina Bauschs legendäre Choreographie von Strawinskys „Sacre du Printemps” – ein Werk, das nicht nur spezifische Fragen nach der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft aufwirft, sondern das auch als Allegorie für die Entwicklung des modernen Tanzes schlechthin gelesen werden kann.

Unter dem Titel „Methoden der Tanzwissenschaft – Modellanalysen zu Pina Bauschs ‘Le Sacre du Printemps” haben die Veranstalterinnen die unterschiedlichen Positionen des Symposiums nun in Buchform zusammengefasst und damit eine Art Bestandsaufnahme möglicher Blickwinkel der heutigen Tanzforschung geliefert.

Strukturiert sind die Beiträge in vier großen Blöcken, in die wiederum vier Exkurse eingeschoben sind, die die dargelegten Positionen an die Praxis andocken sollen. Der erste Themenkreis beschäftigt sich mit der Zeichenhaftigkeit des Bühnengeschehens. Hier unterzieht zunächst der Theaterwissenschaftler Peter Boenisch Bauschs Choreographie einer semiotischen Analyse, die zu dem Ergebnis kommt, dass sich das Werk nicht zufriedenstellend aufschlüsseln lässt, da es stets einen „signifikatorischen Rest” produziere. Anschließend problematisiert die Schweizerin Christina Turner das vorgegebene Medium – alle Analysen fußen auf einer Fernsehaufzeichnung des „Sacre”, die dem Buch in Auszügen auf DVD beiliegt – und die Unmöglichkeit, ohne Live-Erlebnis eine schlüssige Aufführungsanalyse zu entwickeln. Der Journalist und Theoretiker Gerald Siegmund wiederum unterstreicht den Kunstcharakter des „Sacre”, das eben kein Ritual sei, sondern ein selbstreflexives Stück über Tanz und seine gesellschaftliche Funktion.

In einem zweiten Block zum Thema „Bewegung und Notation” führt die Bewegungsanalytikerin Antja Kennedy in die Laban-Bartenieff-Notation ein, während sich der Sportwissenschaftler Volker Lippens in einer hochakademischen Beschreibung des „Flow-Erlebnisses” bei Hochleistungssportlern erschöpft, das den Gegenstand der Diskussion ein wenig aus den Augen verliert.

Weitaus pragmatischer gehen im nächsten Abschnitt „Aktion und Dialog” Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke und Christiane Karl vor, die mit Hilfe des kinästhetischen Bewegungsbeobachtungssystems „Inventarisierung von Bewegung” (IVB) Bauschs Choreographie der Rekonstruktion von Nijinskis „Ur-Sacre” gegenüberstellen. Das Verhältnis von Tanz und Musik untersucht die Amerikanerin Stephanie Jordan, und demonstriert, wie Pina Bausch Strawinskys Komposition durch rhythmische Verschiebungen stellenweise eine völlig neue Deutung verleiht.

Im Block „Ritual und Symbol” bemerken die Soziologen Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner eine Störung der symbolischen Ordnung, die Bauschs Opfer zum leeren Zeichen für eine außer Kontrolle geratene Gesellschaft werden lässt. Der Kunstgeschichtler Michael Diers formuliert dies sogar noch konkreter. Durch eine Analyse der politischen Ikonographie des 1975 entstandenen Werkes entdeckt er darin einen Kommentar zu den Aktionen der RAF und der Konfrontation zwischen Individuum und Gesellschaft.

Zu guter Letzt kehren die Beiträge wieder zum Körper selbst zurück, der nach der psychoanalytisch geschulten Sicht des Amerikaners Mark Franko bei Bausch ein zutiefst „hysterisierter” ist. Abschließend stellt der Potsdamer Medienwissenschaftler Dieter Mersch fest, dass die Performativität des Stückes seine inhaltliche Aussage bei Weitem übersteigt. Fast scheint es ihm, als versuchten Bauschs Tänzer immer wieder gegen das kunsthistorische Gewicht von Strawinskys Komposition anzurennen.

Kommen die einzelnen Beiträge oft sehr wissenschaftlich verklausuliert daher, ist es eine wahre Wohltat für den Leser, wenn das Gesagte in kurzen Exkursen auf die Praxis übertragen wird. So erläutert der Israeli Amos Hetz aus einer Doppelperspektive – der des analysierenden Zuschauers und der des Tänzers – den Kontrast zwischen klar geformten und spontanen Bewegungen, aus denen Pina Bauschs Choreographie ihre Spannung entwickelt. Als Kritik an der autoritären Blickrichtung der Fernsehaufnahme stellt die Sozialwissenschaftlerin Bina Elisabeth Mohn ihr Konzept einer „Kameraenthologie” vor, die sich ihrem Gegenstand in völliger Offenheit nähert, ohne sofort „Sinn” produzieren zu wollen.

Wahre Höhepunkte sind die beiden Interviews mit den Tänzern Gitta Barthel und Stephan Brinkmann, die Gabriele Klein am Anschluss an den Kongress geführt hat. Beide haben Bauschs „Sacre” jahrelang getanzt bzw. tun es immer noch. Während Barthel von den rein praktischen Schwierigkeiten im Umgang mit Strawinskys Komposition berichtet – „Man muss die ganze Zeit zählen”, weist Brinkmann eindeutig auf die Grenzen der wissenschaftlichen Analyse hin. Als er, der auch Theaterwissenschaftler ist, von Klein gefragt wird, ob er sich mit dem Stück nie auf einer wissenschaftlichen Basis beschäftigt hätte, sagt er den denkwürdigen Satz: „Ich möchte nicht etwas verletzen, was mir sehr viel bedeutet und was auch jenseits der Sprache liegt, jenseits dessen, was man in Worte kleiden kann.” Wie viele Kongressdokumente zersplittert „Methoden der Tanzwissenschaft” in eine Vielzahl von Positionen, aus denen sich keine kohärente Blickrichtung mehr herauskristallisieren lässt. Damit ist es den beiden Herausgeberinnen in jedem Fall gelungen, einen Eindruck von der Vielfältigkeit der multidisziplinären Ansätze zu vermitteln, auf die die Tanzwissenschaft heute zurückgreifen kann – und muss.

Schade nur, dass als Gegenstand ein Werk gewählt wurde, dessen künstlerischer Stellenwert so völlig außer Frage steht. Vielleicht wäre es spannender – und dann auch produktiver gewesen – wenn sich die Beteiligten beispielsweise an Xavier Le Roys „Sacre”-Solo abgearbeitet hätten, das noch nicht den Stempel „künstlerisch wertvoll” trägt, aber seit seiner Deutschlandpremiere für eine Menge kontroversen Diskussionsstoff gesorgt hat?

 

Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hrsg.), „Methoden der Tanzwissenschaft – Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps”, in der Reihe „TanzScripte”, transcript Verlag Bielefeld 2007, 302 S., inkl. DVD, 28,80 € ISBN: 978-3-89942-558-1

 

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern