Der Tisch ist gedeckt

22. Choreografie-Wettbewerb in Hannover

Hannover, 25/03/2008

13 500 Euro plus Scapino-Produktionspreis werden in diesem Jahr ausgeschüttet beim Internationalen Wettbewerb für Choreographen, zum 22. Mal in Hannover an der Staatsoper abgehalten. Zusammengeholt von Sponsoren haben diese Summe die Veranstalter, die rührige Ballettgesellschaft Hannover e.V. (Geschäftsführerin: Dr. Birgit Grüßer) und die Niedersächsische Lottostiftung. 149 Choreografen und Choreografinnen aus 45 Ländern – darunter China, Slowenien, Taiwan, Serbien, Israel, Korea, USA - haben sich beworben. 17 Produktionen, darunter eine aus Deutschland, wurden von einer Jury ausgewählt, an zwei Tagen in Hannover gezeigt zu werden. Ins Finale am Abend des Ostersonntags kamen acht Stücke, wiederum bestimmt von einer Jury (Ivan Liska, Ed Wubbe, Ted Brandson, Jörg Mannes, Stephan Thoss, Marc Jonkers, Eva-Maria Lerchenberg-Thöny). Wie immer votiert auch eine Kritikerjury, u.a. mit Hartmut Regitz und Claudia Henne besetzt. Und nicht zuletzt darf das Publikum seine Favoriten unter den acht Finalisten küren. Last not least pickt sich Ed Wubbe, Chef des Scapino-Balletts, eine(n) heraus, der/die für seine Kompanie eine Choreografie schaffen darf.

In diesem Jahr fallen Publikumspreis (1000 Euro) und 1.Preis der Jury (6000 Euro) zusammen: Mirko Guido (Italien) räumt ab mit seinem Stück „Tra Me e se, Forse“. Darin entwickelt Guido ein Beziehungsdrama zwischen zwei Männern (Zen Jefferson, Loic Perela), überweite Trägerhosen, nackter Oberkörper. Mit rhythmisierter Lautsprache begleiten sie zu Beginn ihren Tanz, synchron, bis einer, der Kleinere, ausbricht und einen eigenen (Seit-)Weg geht. Der Größere holt ihn zurück, zwingt ihn quasi zur gemeinsamen Aktion, einer Beugung mit herabhängenden, geschüttelten Armen zum Laut BRRRR (wie unter kaltem Duschwasser). Der Kleine wieder weg, zurück, wieder weg – bis sich der Zweier auflöst. Wie ein Suchender bewegt sich einer auf einer Lichtdiagonale, während der andere eine Bank hereinschleppt, die von unsichtbaren Händen wieder weggezogen wird. Schließlich kniet der Größere am Boden, der Kleinere schlägt ihm hart auf den Rücken, stößt ihn mit dem Fuß weg. Als der Drangsalierte wie drohend auf ihn zugeht, weicht er zurück, wird aber gepackt – und empfängt einen dicken Schmatz auf den Mund. Zum guten (?) Ende sitzen beide auf der Bank. Während die Startepisode trockenen Witz in clownesker Manier transportiert, verlieren sich die folgenden zwei Abschnitte choreografisch mehr und mehr in schwammiger Melancholie. Dank der Präsenz der beiden, sehr unterschiedlichen Tänzer bleibt die Spannung weitgehend erhalten. Lange Rede, kurzer Sinn: Für den ersten Preis war mir das zu wenig originäre Substanz.

Mein Favorit ist das Duo „10 Years“ von Rosana Hribar und Gregor Lustek (Slowenien), deren Bewegungswitz, originelle Phrasierungen und langer Atem, einen Bogen zu ziehen, faszinierend anzusehen ist. Den Zweien gelingt es, noch den spektakulärsten Übergang leicht und wie selbstverständlich ausschauen zu lassen. Etwa, wenn sie von hinten über ein gebeugtes Bein auf den Rücken des hockenden Mannes rollt. Oder, wenn beide übereinander steigen und zusammenkrachen, dass es einem beim Zusehen schon wehtut. Er packt sie auf ihren Schoß – und wirft sie rüde weg wie Abfall. Sie schlägt ihn auf den Hintern.

Angestaute Aggressionen von 10 Jahren Partnerschaft? Vom harten, sehr harten Körperkontakt beim Einstieg ins Stück über ihren Beinstoß bis zum gezwungenen Lachen gegen Schluss entsteht eine knappe, aber tiefgehende Beschreibung einer gefährdeten Gemeinsamkeit; völlig unsentimental, aber desto eindrücklicher. „Right in time“ sei die Arbeit, sagt Wubbe bei der Verleihung des 2. Preises (3000 Euro). Es habe andere im Programm gegeben, so Wubbe, die nicht dieses Gefühl für die richtige Dauer gehabt hätten.

Außerdem sackt das Duo verdientermaßen den Kritikerpreis (1500 Euro) ein.

Auf gänzlich andere Art fiel das Trio „Ever more“ völlig aus dem Rahmen. Die Choreografinnen und Tänzerinnen Xiaohe Liu, Disha Zhang, Juanjuan Sun (China) zelebrieren mit schier unglaublicher Konzentration einen verwirrend komplexen Minimaldance. Das Auge vermag dem Ablauf des kompakt stehenden Dreiers kaum zu folgen: Arme verhakeln, verzwirbeln sich, kreuzen über und unter, langen hin und werfen den Arm der jeweiligen Partnerin zurück, Kopf und Körper zucken zur Seite. Ab und an geschieht ein kleiner Ausbruch aus der Formation, gerinnt das Geschehen zur Pose – um dann in unvermindert hohem Tempo motorisch weiter zu ticken. Allmählich lullt es ein wie beim Anblick einer Maschine, die ohne Weiterführung immer wieder denselben oder nur wenig veränderten Ablauf vollführt. Den Chinesinnen verlieh die Jury den 3. Preis (2000 Euro). Wubbe gestand ein, er sei neugierig, was in Zukunft von den „Ladies“ gezeigt werde.

Als Choreografen für sein Ensemble holt er sich Jérôme Delbey (Frankreich), der sich mit „Mauvais Anges“ in Hannover präsentiert. Er habe sich für Delbey entschieden, erklärt Wubbe, weil er sich von ihm vorstellen könne, dass er mit seinen Leuten gut arbeiten könne. Der Franzose breitet zur Musik von Chopin (Regentropfenprélude op.28, Nr. 15) manieriert und ein wenig larmoyant einen Zweierkonflikt aus: Chopin und George Sand? Er wirft Papierblätter, wohl Notenblätter, in Mengen auf die Bühne, zerreißt etliche, während Nebelfetzen aufsteigen. Nach einigem Hin und Her, wohl von quälerischer Liebe und verdrängtem Hass geplagt, lässt er sie buchstäblich allen. Sie schleicht sich zur Seite und zieht eine Papierdecke über sich. Fin. Naja.

Trotz einiger Schwächen hätte ich gern das sehr eigenwillige „Ja Ja der Jodok“ von Dilan Ercenk und den Geschwistern Tessa und Denise Temme (Deutschland) im Finale gesehen, noch vor anderen Teilnehmern wie „…And Carolyn“ von Alan Lucien Öyen (Norwegen). Zu einem äußerst klar gesprochenen, sprachspielerischen Text von Peter Bichsel über einen ominösen Onkel Jodok, den es gibt und nicht gibt, wie eine Kindheitserinnerung, der man sich nicht sicher ist, die aber das Wesen dieser Zeit aufdeckt. Anfangs mit kindgroßen Gummipuppen in der Hand, schreiten die Tänzerinnen in präzisem Gleichmaß Stationen ab. Kennzeichnend ist der parallele Tiefschritt, bei dem der Hintern fast den Boden streift. Wenn den Puppen die Luft herausgedrückt ist, sie wie Lappen herunterhängen, endet das Stück.

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