Der lebende Lampenschirm oder ein Requiem für weggeworfene Körper

„Electric girl“ – das erste Tanzstück aus Griechenland bei der euro-scene

Leipzig, 11/11/2008

Der Anlass ist historisch. Er ist grausig, so grotesk wie unglaublich in seiner perfiden Menschenverachtung, Frauenfeindlich sowieso. New York 1883. Der Siegeszug der Elektrizität elektrisiert die Menschen. Ganz neue Geschäftsideen blitzen auf. Ein Geschäft vermietet junge Mädchen, die Batterien am Leib tragen, auf dem Kopf einen Lampenschirm und für vereinbarte Zeit ihren Mietern nach Lust und Laune auf Zuruf und Befehl zu beleuchten haben, was denen gerade in den Sinn kommt, bzw. wonach er ihnen steht. Denken wir weiter in Assoziationen im Kontext deutscher Geschichte, dann sollten die Stichworte Menschenverachtung und Lampenschirm ausreichen, um Unbehagen, Übelkeit oder weitere körperliche Reaktionen zu spüren. Wir erleben aber im Leipziger LOFFT ein Gastspiel der „Quasi stellar dance company“ aus Athen, das erste Tanzstück aus Griechenland überhaupt im Programm der euro-scene in ihrem 18. Jahr. Es wurde Zeit.

Was zunächst wie die Zusammensetzung sattsam bekannter Versatzstücke der Tanztheatervarianten einzelner Frauen im Befindlichkeitsrausch aussieht erweist sich als mutige Provokation von erheblicher Langzeitwirkung. Das ist eine Zumutung im besten Sinne des Wortes und ein ausgesprochen angemessener Beitrag im Programm eines Festivals, das sich vornimmt, den Erscheinungsformen des Taumels auf glatter See über allen Untiefen und verborgenen Riffs nachzuspüren. Wir betreten den Raum des Theaters. Geräusche und Ausstattungsstücke, die dem Titel gemäß Klischees sein könnten. Knistern und Rascheln, elektronische Signale. Riesige Glühbirnen, ein mächtiger Kabelbaum, der sich vom Bühnenhimmel herab in den Raum zerfasert. Mitten im Raum ein flaches Podium, etwas Steuertechnik, E-Gitarre und elektrisch verstärkte Geige, ein Mikrophon. Wir sitzen in drei Blöcken und sehen von drei Seiten auf das Podium im freien Raum und wir sehen uns, nicht zuletzt im Spiegel der anderen. Die drahtlose Kommunikation spannt unzählige feine Leitungen kreuz und quer durch den Raum.

Wir betreten den Raum des Theaters. Gleich links neben dem Eingang liegt eine Frau in Unterwäsche. Da gehen wir vorbei. Einmal weil wir ins Theater gehen, zum anderen, weil wir das vom Tanztheater kennen, Frauen in Unterwäsche, die am Boden liegen. Hat sich die Choreografin Apostolina Papadamaki da verschätzt oder ist das schon eines ihrer subversiven Spiele mit dem menschlichen Körper, in die sie uns stärker hineinziehen wird, als uns lieb ist. Bald nämlich krachen elektronische Klangbrocken in den Raum, die der patriarchal thronende Musiker und Komponist Blaine Reininger der Gitarre oder der Violine abtrotzt. Er wird auch singen oder sprechen, raunen und deklamieren, dieser „Onassis“, er wird erwählen und verwerfen, befehlen auch und uns am Ende die Tänzerin Hara Kotsali als lebende Lampe präsentieren. Bis dahin trägt sie in wilden Stürzen und harten Aktionen die Haut ihres fast nackten Körpers zum Markte.

Wie von Stromschlägen getroffen gerät der Körper in wildes Zucken, die Tänzerin bäumt sich auf, stürzt nieder, sinkt in sich zusammen, wird zum Knäuel aus Elend. Aber wieder und wieder, wie im Experiment der Widerbelebungsversuche, formen sich aus ungelenken Bewegungen Techniken der Fortbewegung, der Flucht und der gefährdeten Aufrichtigkeit. Videoeinspielungen und Texte führen zum Anlass des Stückes, darüber hinaus, u.a. durch ein Gedicht von Walt Whitman zur Hommage auf die einmalige Elektrizität des menschlichen Körpers.

Dass es zu einer fast zärtlichen Verbindung zwischen „Täter“ und „Opfer“ kommt in deren Konsequenz es die „leuchtende“ Verliererin und den „verloschenen“ Gewinner gibt, gehört zu den starken Momenten dieser Performance von gut 45 Minuten Dauer. Die 18. euro-scene ist zu Ende. Eine Bilanz von 7500 Zuschauern bei 22 Aufführungen, mit zwölf Gastspielen aus acht Ländern, bedeutet Auslastung der Möglichkeiten von 96,2 %. Das ist ein Erfolg, melden die Organisatoren. Da gratuliert man gerne, vor allem auch dazu, dass sie jetzt schon vermelden können, dass der Fortbestand des Festivals gesichert ist und vom 3. bis zum 8. November 2009 die nächste euro-scene in Leipzig stattfinden wird.

www.euro-szene.de

 

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