Ein neues Wunderwerk: Marco Goecke stellte in Monte Carlo das Stück „Whiteout“ vor

Den Tanz in die Horizontale gekippt

Monte Carlo, 23/07/2008

Der Mond ist aufgegangen, und pünktlich zur Premiere steht er über der Bühne, auf der alljährlich die „Nuits de la danse“ der Ballets de Monte Carlo stattfinden: ein Festival der feineren Art, bei dem nicht nur die Chef-Choreografien von Jean-Christophe Maillot gezeigt werden, sondern auch die exklusiven Beiträge der Gäste.
In diesem Jahr sind das gleich zwei, die der Ehre teilhaftig werden, sozusagen unter der Präsidentschaft der Princesse de Hanovre ihre Werke vorzustellen: Johan Inger, gerade verabschiedeter Chef des schwedischen Cullberg-Balletts, und Marco Goecke, Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts. Prinzessin Caroline ist zwar zur Saisoneröffnung nicht präsent, aber auch ohne ihre Gegenwart steht die Uraufführung von „Whiteout“ unter einem guten Stern. Kein einziges Wölkchen trübt den Himmel, eine laue Brise fächelt Erfrischung, und während der Blick nebenher immer mal wieder abschweift zu einem Feuerwerk an der Côte d'Azur, findet open air ein Ereignis statt, das es in sich hat. Schon Inger macht es den Zuschauern mit „Walking Mad“ - ursprünglich eine Arbeit fürs Nederlands Dans Theater - nicht eben leicht. Aber keinerlei Rücksicht auf einen Massengeschmack nimmt Marco Goecke, der auch in Monaco seinen einmal eingeschlagenen Weg konsequent geht und mit „Whiteout“ ein Werk präsentiert, das erst einmal gesehen werden will.

Das ist bekanntlich bei einem echten Goecke gar nicht so einfach. Doch Udo Haberland lässt sein Licht sensibel leuchten, und der hellgraue Boden bringt die Choreografie gottlob nicht zum Verschwinden. Was insofern wichtig ist, als gegen Ende des Halb-Stunden-Balletts Jeroen Verbruggen nicht mehr auf die Beine kommt und lange Zeit sein Solo auf dem Rücken liegend zelebriert - als hätte Goecke den Tanz aus der Vertikalen einmal in die Horizontale gekippt: ein grandioser Einfall, von Verbruggen auf großartige Weise gemeistert.

Aber an Einfällen mangelt es dem Stück ohnehin nicht, dem Goecke Songs von Bob Dylan und live gespielte Gitarrenmusik von Manu Block zugrunde legt: Mal knistert einer der Tänzer kryptisch mit einem Papierfächer, mal klappert ein anderer mit seinen Hosen voller Muschelschalen. Eine Szene lang tragen die neun Tänzer ihre Räucherstäbchen bündelweise. Ein schwerer Duft liegt in der Luft, und wer nicht genauer hinschaut, könnte glauben, Glühwürmchen glimmen.

Von Selbstbeweihräucherung keine Spur, und auch die Natur bleibt außen vor. Michaela Springer lässt auf den Leibern zwar riesige Rosenblätter wuchern, doch wenn die Tänzer immer wieder ihre Körper fieberhaft befingern, gewinnt man eher den Eindruck, als wollten sie sich in ihrer Eitelkeit bepudern. Mag sein, dass Goecke in „Whiteout“ auch das Publikum bespiegelt. Sicher ist das nicht. Selbst wenn das Bewegungsmaterial womöglich dem Alltag seiner Interpreten entstammt, bildet er nicht ihre Wirklichkeit ab. Goecke erschafft sich eine eigene Welt. Und die ist noch immer so unbegreiflich wie am ersten Tag, vielschichtig in ihrer vibrierenden Spannung und selbst in einer Vollmondnacht noch so voller Schwärze, dass man sich als Zuschauer sehnsüchtig wünscht, dass dem Choreografen eines nicht allzu fernen Tages endlich einmal ein Licht aufgeht. Auf dass wir endlich erkennen, was für ein Wunderwerk er auch mit „Whiteout“ wieder geschaffen hat.

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