Der Tradition verpflichtet

Patrice Barts „Giselle“ an der Pariser Oper

Paris, 14/10/2009

In einem Interview früher dieses Jahr sagte mir Patrice Bart: „Im Gegensatz zu anderen Neufassungen von Klassikern, die ich gemacht habe, bin ich bei „Giselle“ immer sehr nah an Coralli und Perrot geblieben. Ich finde, das Stück ist ein Meisterwerk und es wäre schade, zu sehr daran herumzubasteln.“ In seiner Version für das Ballett der Pariser Oper aus dem Jahr 1991, die nun die Spielzeit im Palais Garnier eröffnet, ist diese Absicht deutlich spürbar. Dekor und Kostüme gehen auf Alexandre Benois zurueck, die Pantomime, die in vielen neueren Versionen als unverständlich und unzeitgemäß reduziert wurde, nimmt wieder eine wichtige Stellung ein, zuweilen klingt beinahe unbekannt gewordene Musik aus dem Orchestergraben.

Die Methode führt zum Erfolg: das geschmackvoll ausgestattete und choreografisch schlüssige Werk strahlt die Harmonie und Faszination aus, die es zu einem der langlebigsten Klassiker auf den Ballettbühnen der Welt gemacht haben. Diese Harmonie wäre allerdings kaum zu erreichen ohne die Präzision und Synchronität des Corps de Ballet der Pariser Oper, vor allem im zweiten Akt. Die Willis, regiert von Emilie Cozette als majestätischer Myrtha, enthüllen sich dort in ihrer Doppelgestalt als körperlose Geister betrogener junger Mädchen und unerbittliche Rächerinnen, die jeden sich in ihr Terrain wagenden Mann in den Tod treiben: mal kreisen und schweben sie in vollkommener Leichtigkeit, dann wieder lassen sie durch eckige und abrupte Bewegungen erahnen, dass sie keine gewöhnlichen Elfen sind, sondern Untote, die auf blutige Vergeltung sinnen. In ihre Falle tappen nacheinander beide ehemals in Giselle verliebten Rivalen: zuerst der verschmähte Wildhüter Hilarion, dann der adlige Albrecht, der sich in bäuerlicher Verkleidung in Giselles Herzen schlich und dessen Verrat (seine verschwiegene Herkunft und seine bereits zuvor geschlossene Verlobung mit Bathilde) das Bauernmädchen in Wahnsinn und Tod treibt.

Yann Bridard als Wildhüter tanzt zwar ordentlich, scheint aber bis zu seinem Ableben merkwürdig abwesend; nur seine nagende und hasserfüllte Eifersucht auf Albrecht ist deutlich sichtbar. Mathieu Ganio, nach langer Verletzungspause wieder zurück auf der Pariser Bühne, überzeugt hingegen in seinem Kampf ums Überleben – vor allem durch eine Serie von Entrechats six, die wohl die beeindruckendste der Spielzeit bleiben wird, und eine exzellente Variation. Clairemarie Osta als Giselle scheint im ersten Akt mehr in ihrem Element: die Rolle des einfachen Bauernmädchens liegt ihr eher als die des Geistes im zweiten Akt, in dem es ihr aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht immer gelingt, den Eindruck körperloser Leichtigkeit zu erwecken – anders als beispielsweise der vollkommen schwerelos erscheinenden Aurelie Dupont. Dafür wirkt sie im ersten Akt durch ihr natürliches Spiel und durch ihre verständliche Pantomime oft glaubhafter als einige ihrer eleganteren Kolleginnen. Emmanuel Thibault, seit etlichen Jahren ungekrönter König des Bauern-Pas-de-Deux, enttäuscht auch diesmal nicht, obgleich sowohl er als auch seine Partnerin Mélanie Hurel Schwierigkeiten haben, den anfänglichen Elan bis zum Ende ihrer Variationen beizubehalten. Energie bis zum Schluss bewahrt dafür das Orchester unter Koen Kessels; das Adams wunderbar tanzbare Musik schwungvoll interpretiert. Ein Meisterwerk, das in der Tat kaum des Lifting bedarf – lediglich einer Besetzung, die es versteht, die Last seiner Aufführungsgeschichte zu tragen.

Besuchte Vorstellung: 12.10.2009 Paris, Palais Garnier

www.operadeparis.fr

Kommentare

Noch keine Beiträge