„Neuer Tanz aus Japan“ auf Tournee

Zirkus, Sex und Zeitlupe

Münster, 13/09/2009

Eine kleine, sehr feine Auswahl von Vertretern aktueller Tanztendenzen aus Japan schickt das Japanische Kultusministerium durch die Welt. Jetzt kamen die drei Gruppen nach Deutschland und sorgten in Potsdam, Düsseldorf und Münster für Begeisterung. So unterschiedlich die jeweils 25- bis 40-minütigen Ausschnitte aus ihren abendfüllenden Choreografien sind, gemein ist ihnen die hohe ästhetische und technische Qualität der choreografischen Handschriften, ebenso die Ambivalenz von Trauer in der Freude, Licht in der Dunkelheit. Fremd-fernöstlich muten zumindest zwei der Choreografien kaum an, zumal viele der Beteiligten in Europa studiert oder gearbeitet haben. „Zirkus“ des Natural Dance Theatre zeigt in der Choreografie von Mako Kawano Szenen aus der Welt von Artisten und Magiern. Ein streunender Hund bettelt „Give me a job“, ein kahlköpfiger Greis, seines zerschlissenen Zauberer-Kostüms beraubt, humpelt – tief verletzt – nackt in die Kulissen. Einer Marionette gleich tanzt die maskenhaft-weiß geschminkte Ballerina – ein letztes Mal? Schlaff liegt derweil die blaue Ballonseide auf dem Boden, plustert sich später zum Segel wie auf stürmischer See auf, bläht sich schließlich zur Zirkuskuppel. Das Flair einer Comedia dell'Arte-Vorstellung entfaltet sich, wenn Clowns und Artisten in bunten, teils Kimono-ähnlichen Kostümen hereinstürmen und mit unbändiger Lebensfreude zur laut lärmenden Blasmusik tanzen. Ganz leise, voll Würde, schleichen der Magier in Zylinder und Frack und die Tänzerin sich dazwischen – ihre Zeit ist vorbei...

Die Sequenz „I am aroused“ (Ich bin heiß) der Gruppe Baby Q aus dem Tanzstück der Leiterin der Truppe, Yoko Higashino, verbindet Videos, auf denen Käfer und andere Krabbeltiere sich grunzend und stöhnend begatten, und getanzte Sequenzen – zunächst von drei hochschwangeren Frauen, später von drei Männern, schließlich von allen sechs, aber in offenbar neuer Identität. Überwacht wird das Geschehen von einer vermummten Gestalt, die sich zwischendurch wie ein Vampir geriert – bizarr, rätselhaft.

Butoh vom Feinsten bietet „Dead-1“ von Ko Murobushi, einem Schüler des renommierten Butoh-Gründers Tatsumi Hijikata, und seit vielen Jahren – neben Kazuo Ohno, dem charismatischen Gründer der anderen Butoh-Richtung – geradezu ein Missionar dieser neuen meditativen, hoch artistischen Zeitlupen-Bewegungskunst in der westlichen Welt. Drei Männer seiner 2003 gegründeten Gruppe Ko&Edge Co. sind zu Beginn, silbern geschminkt, hinten auf der Bühne kerzengerade aufgereiht. Der Kopf ist unsichtbar, das Körpergewicht ruht auf den muskulösen Schultern der Männer. Die Beine sind leicht gespreizt, die Arme weit ausladend wie Schwingen. Minutenlang verharren sie reglos. Langsam ziehen sie schließlich Arme und Beine zusammen, sodass nur mehr der Rumpf sichtbar bleibt. Wie von fern setzt Musik ein, eine Frauenstimme ist zu hören. Immer wieder singt sie die Verse des alten Schäferlieds aus der Auvergne „Bailero“ mit dem melancholischen Refrain „Bailero lèro, lèro, lèro...“. Crescendoartig schwillt die Lautstärke an, während die drei Männer sich mühen, wie kleine Krokodile aus dem Ei zu schlüpfen, sich aufzurichten, Schritte zu versuchen – scheitern, wieder und wieder erschöpft auf dem Boden liegen. Werden und Vergehen menschlichen Lebens werden hier höchst eindrücklich dargestellt. Eine atemraubende halbe Stunde gelebter Tanz.

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