Sich der Leere stellen

Performancereihe „Wilde Tendenzen – Du fehlst“

München, 20/12/2009

Aus der Dunkelheit spricht eine Stimme. Hell und fröhlich. Sie gehört Chiang Mei Wang. Aber ihre Lippen sind fest geschlossen. Sie spricht nicht in der Gegenwart, denn ihre Stimme ist aufgezeichnet. Als Relikt, als Erinnerung an ein Leben, als ihre Rede noch eine Gegenrede hatte. Dieser Verlust ist präsent in der Stille, in der Leere, in der Zeit zwischen ihren Fragen und Sätzen. Sie muss ihn nicht aussprechen. Er ist da. Der Verlust ihres Vaters. „Long distance call“ heißt das Stück, das die taiwanesische Tänzerin ihrem verstorbenen Vater gewidmet hat. Die Telefonanrufe nach Hause sind der rote Faden in Chiang Mei Wangs getanzten Lebensstationen, der Vater ist immer präsent, aber ihr einziger Begleiter auf der Bühne ist ihr Koffer. Ein unglaublich berührendes, authentisches Stück, das bis tief unter die Haut reicht, gerade weil es nicht exhibitionistisch mit dem Schmerz umgeht. Die Gegensätze sind es, die das Publikum mit verzweifeln lassen: Die Abwesenheit und Leere konfrontiert mit der Präsenz und Schönheit der weichen, fließenden Bewegungen, einer Mischung aus asiatischer Tanzkultur und Modern Dance. Chiang Mei Wangs Tanz erscheint als zarter und zugleich tiefer Versuch, mit dem Jenseits zu kommunizieren. Dorthin Botschaften zu schicken, wo Worte und Telefone nicht mehr ausreichen.

Ein Auftakt, der die Intention des Abends voll trifft: Den Tanz als Ausdrucksform für die Emotionen zu zeigen, die „Schnittstellen“ zwischen allen Menschen, wie sich der Initiator der Performancereihe Manfred Kröll ausdrückt. Wie Chiang Mei Wang haben auch die anderen fünf Tänzer, die bei „Du fehlst“ auftreten, einen nahe stehenden Menschen verloren. Und machen aus Trauerarbeit Kunst. Ein mutiges Unterfangen, denn für manche der Tänzer liegt der Verlust noch nicht allzu lange zurück. Mutig auch für das Publikum. Manchen laufen die Tränen über die Wangen, andere kommen nach der Pause nicht wieder, weil ihnen die Selbstoffenbarungen der Tänzer zu direkt sind. Auch zum Publikumsgespräch nach der Aufführung sind an einem der Abende gerade mal noch zehn Leute da.

Manche Performances könnten tatsächlich als verstörend aufgefasst werden. So zum Beispiel „Frozen“ von Jasmine Morand. Mit nacktem Oberkörper sitzt sie in der Mitte der Bühne in einem Spotlight, Dunkelheit um sie, dem Publikum nur den Rücken zugewandt. Ihre spitzen Schulterblätter pflügen sich durch den Rücken, ihre Rippen weiten sich, zucken, die Muskeln zerfurchen das Bild der glatten Haut. Es ist an der Grenze zum Schmerz, dem zuzusehen. Und an der Grenze der Vorstellungskraft, sich zu vergegenwärtigen, dass Jasmine Morand das letzte körperliche Aufbäumen ihres Vaters tanzt. Für manche mag diese Konfrontation mit den Grenzen des menschlichen Lebens zu viel sein, aber Jasmine Morands Tanz bleibt letzten Endes Tanz, bleibt Ästhetik, verwandelt den Tod in Lebendiges. Auch bei der Performance des Butoh-Tänzers Stefan Marb war im Publikum spürbar, dass für manche eine Grenze erreicht war. Butoh ist ein japanischer Ausdruckstanz, der unter anderem mit Mimik und hörbarem Atem arbeitet. Dementsprechend setzt Stefan Marb seinen Totentanz auch um. Körperlich gekrümmt, den Mund aufgerissen, die Augen halb geschlossen, in einem schwarzen Jacket und einem halbtransparenten, langen Rock wirkt er wie der personifizierte Tod. Zart entfaltet er einen weißen Schal in seinen Händen, dann beginnt er atemweise Schmerzlaute auszustoßen, die Hände verkrampfen und der Schal trennt sich von dem Tänzerleib wie eine Seele. Erst als nach über zehn Minuten die engelsgleichen Klänge der 13-jährigen Harfinistin Sophi Litzinger erklingen, fühlt sich das Publikum erlöst.

Weniger radikal waren die Stücke dazwischen. Manfred Kröll beispielsweise arbeitet mit Erinnerungsbildern an seine Mutter. Sie hat sich vor 20 Jahren selbst getötet. Eine lange Zeit, die über wechselnde Phasen der Auseinandersetzung tänzerisch dokumentiert wird: Biographische Elemente, Momente der Entfremdung zwischen Mutter und Sohn, Selbstbestrafung, aber auch Zeiten des Vertrauens, der Liebe und letzten Endes Verzweiflung, medial interessant umgesetzt als Blitzlichtgewitter einer Fotokamera in der Dunkelheit.

Auch Stephanie Felber durchtanzt auf der Bühne die verschiedenen emotionalen Zustände der Trauerarbeit: Wut, tiefe Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Irrwitz. Erst als sie ergeben und regungslos am Boden liegt, erwecken sie die Klänge der Vergangenheit, die schönen Erinnerungen an eine gute Zeit, auch selbst wieder zum Leben. Einen tänzerisch unglaublich guten und versöhnlichen Abschluss von „Du fehlst“ bot David Russo. Er hat sein Stück „Stato d'animo“ Sebastian Nichita gewidmet, einem Tanzkollegen aus dem Gärtnerplatztheater, der eines Tages ganz unerwartet im Bad zusammengebrochen und gestorben ist. Am Anfang und Ende des Stücks ist das Dauerrauschen einer Fontäne hörbar, das auch während der Performance immer unterschwellig und bedrohlich präsent ist und – so kann es einem erscheinen – bei aller tänzerischen Perfektion beständig an das Gedenken mahnt.

Kommentare

Noch keine Beiträge