Viele Ideen, wenig Stringenz

„Nussknacker und Mäusekönig“ von Jörg Mannes

Hannover, 07/12/2009

Was der Oper zur Weihnachtszeit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ ist dem Ballett Tschaikowskys „Nussknacker“. Mit der Premiere des überaus beliebten Stückes hat die Staatsoper Hannover beide Werke im Programm, ein Pfund für den Monat Dezember. Natürlich hat Ballettchef Jörg Mannes seinen „Nussknacker und Mäusekönig“ geschaffen, eigene Schritte den Gestalten Marie, Nussknacker, Drosselmeier u.a. zugeteilt. Zudem weicht er vom geradlinig erzählenden Originallibretto ab, schiebt zu Tschaikowskys „Rokoko Variationen“ das „Märchen von der harten Nuss“ ein, Bestandteil des Hoffmanschen Märchens, das nur in Teilen als Vorlage für das Originalballett dient. Damit will Mannes die Verwandlung und Herkunft des Nussknackers erklären, auch verdeutlichen, welche inneren Auseinandersetzungen Marie auf der Schwelle zum Erwachsensein durchleiden muss.

Als auslösenden Katalysator nutzt er die Figur des Drosselmeier, einer zwielichtigen Gestalt zwischen den Welten der Realität und des Traumes, zwischen Schrecken und Zuneigung. Der langbeinige Andreas Michael von Arb, wie ein Spießer gekleidet in grauer Strickjacke und Hose (Kostüme: Alexandra Pitz), glatzköpfig, mit langer Nase, bewältigt das Changieren zwischen den Sphären sehr profiliert mit annehmbarer Technik. Eine unangenehme Ungewissheit umwabert ihn, ohne das letztlich trotz seiner Beziehung zum Neffen (=Nussknacker) klar wird, wohin der Außenseiter gehört. Eine Entwicklung gestattet Mannes ihm nicht, seine expressive Bewegungsart bleibt dieselbe. Ähnlich kurz greift Mannes bei Marie (Karine Seneca): Sie tanzt schon zu Beginn bei der Weihnachtsbescherung im erwachsen klassischen Stil auf Spitze mit vielen Secondes und breiter zweiter Position, der innere Entwicklungsweg wird nicht verkörperlicht. Ihr Bruder Fritz (Pantelis Zikas, mitreißendes Temperament) schießt dagegen „pubertär“ Kobolz, reitet wild auf seinem Steckenpferd und ärgert mit seinen Kumpanen Marie kräftig, geht gar dem Nussknacker an den Kragen. Gelungen ist Mannes der Nussknacker (Marcio Boschetti liefert eine pralle Studie) als Puppe in Mannesgröße, die ständig zwischen dem mechanischen Abschnurren einprogrammierter Bewegungen und bewussten menschlich weichen Sequenzen wechselt. Da steckt der Hofmannsche Wahnsinn dahinter wie bei seinen ziellos marschierenden Soldaten, eine leichte Beute für die tückischen Mäuse, die im bläulichen Halbdunkel (Licht: Elana Siberski) auf niedrigen Möbelrollern über die Bühne wuschen. Daraus entwickeln sich sehenswerte Kabbeleien, vom Ensemble mit Verve auf die Bretter gelegt.

Wie bei der vorjährigen Cinderella meidet Mannes den sentimentalen Märchenton. Schon das Bescherungsbild mit dem aus geometrisch exakten Dreiecken aufgeschichteten Weihnachtsbaum und dem schiefen Riesenfenster in der Schräge (Florian Parbs) strahlt den Charme eine Wartehalle aus. Der Trubel einer im Weihnachtsüberschwang drunter und drüber gehenden Familienfeier mit vertrauten Gästen bleibt aus. Der Schneeflockenwalzer wird gründlich veralbert, gefilmt von oben und übertragen auf eine Riesenleinwand, der Blumenwalzer kommt als mit roten Luftballons aufgepeppte Persiflage daher. Beides tanzen die Frauen und Männer des Ensembles mit frischem Schwung. Die Gleichung Neffe gleich Nussknacker stellt Mannes über die Schiene Doppelgänger (beide auf der Bühne) und schnellen Personenwechsel dar. Das klappt besser als die Verbindung Marie und Prinzessin Pirlipat (aus dem Märchen von der harten Nuss), deren Verwandlungen kaum logisch ersichtlich werden.

Der Einschub des Märchens krankt zum Einen an der Musikauswahl: Die Rokoko Variationen für Solocello und Orchester sind absolute Musik sui generis, sind keine dienende Ballettmusik zur Stütze des Tanzes. Aber so nutzt sie Mannes, er folgt oberflächlichen Impulsen der Komposition, ohne die Tiefe zu beachten. Zum Anderen erschöpft sich rasch der Gag der Comic-Textblasen, durch die die Handlung wie bei einer Moritat vorangetrieben wird. Den schwül erotischen arabischen Tanz zieht Mannes heran für die Attacken des Mäusekönigs (Moriel Debi, gefährlich wie eine Schlange) auf Marie, den Trepak für den Kampf zwischen Nussknacker und Mäusekönig: Beides passt nicht, widerspricht der Musikstimmung komplett. Letztlich trägt das eigentlich echte Gefühl des finalen pas de deux zwischen Marie und dem Neffen (Denis Piza) nicht, obwohl Piza mit hohem Sprung, schöner Linie und männlicher Ausstrahlung alles reinpackt und ein hingebungsvoller Partner für Karine Seneca ist. Mannes Choreografie vermag hier keine großen Bögen zu ziehen, zudem fehlt der Seneca fast gänzlich die Aura der Ballerina, sie buchstabiert Schritte nach, vermag sie nicht in Ausdruck verwandeln.

Vereinzelt tauchen Zitate aus der überlieferten Originalchoreografie auf, etwa in der Männervariation des pas de deux, den Mannes geteilt hat: Zwischen dem ersten Auftritt des Paares und der Männervariation wird der Blumenwalzer abgespielt. Warum, hat sich mir nicht erschlossen. Jörg Mannes liefert einen Steinbruch an Ideen, die er choreografisch und dramaturgisch nicht zu einem überzeugenden Ganzen fügen kann. Bei der heiklen Ouvertüre tastet sich das Orchester noch hinein, gelingt das Verzahnen der wechselnden Instrumente noch nicht perfekt. Aber dann finden sich die Musiker unter der Leitung von Toshiaki Murakami gut ins Tschaikowsky-Idiom ein, musizieren rhythmisch flexibel und mit schönem Drive. Die Rokoko-Variationen interpretiert Reynard Rott (Solocello) mit konturiertem Ton, warm im Ausdruck, technisch tadellos.

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