Zu wenig abgedriftet

Nadja Saidakovas erstes abendfüllendes Stück „Egopoint“ im Haus der Berliner Festspiele

Berlin, 29/11/2009

Elektronisches Zirpen. In einer Dämmerstimmung aus zarten Rosa- und Blautönen erscheint eine neunköpfige Gruppe, die halbkreisförmig mit den Rücken zum Publikum steht. Zu ihren Füßen ein aus Eisenrohren zusammengefügtes, überdimensionales Dreieck. Unvermittelt gehen die summenden Klänge in einen schnellen, harten Housebeat über. Die Lichtstimmung wechselt zu kaltem Blau. Blitzschnell fahren die rätselhaften Unbekannten herum und verfallen in eine frenetische Gruppenchoreografie. Arme werden diagonal vom Körper weggereckt, dann unvermittelt angewinkelt, so dass die Hand die muskulöse Schulter berührt. Synchrone Passagen wechseln mit kontrapunktisch verschobenen Sequenzen, und schnell hat sich das Universum des Menschlichen in eine komplex durchorganisierte Mechanik verwandelt.

Zwischen diesen beiden Polen – organische, fast narrative Gesten und stark abgezirkelte abstrakte Form - bewegt sich Nadja Saidakovas erstes abendfüllendes Stück „Egopoint“. Die langjährige erste Solistin des Berliner Staatsballetts zeigt in den folgenden 50 Minuten, wie bravourös sie Bewegung zu organisieren, neu zu verzahnen und zu erfinden versteht. Gleichzeitig offenbart sie dabei jedoch ihre eigenen Grenzen und ästhetischen Beschränkungen.

Vor ungefähr zwei Jahren erarbeitete die Russin gemeinsam mit dem DJ Luke Slater eine knapp sechsminütige Kurzchoreografie im Rahmen der Reihe „Shut Up and Dance“, die erste choreografische Gehversuche der Tänzer des Staatsballetts in dem legendären Friedrichshainer Technoclub Berghain präsentierte. Während sich Saidakovas Kollegen damals narrativ oder abbildend der Faszination für das gewaltige Gebäude mit seinen rauen Betonwänden annäherten, hatte die Primaballerina eine hochkomplexe Miniatur entwickelt, in der die Bewegung Gesten und Posen aus der Technoszene aufgriff, zugleich aber die atmosphärisch hallenden Rhythmen des DJ konterkarierte und in komplexe Strukturen auflöste. Diese fruchtbare Begegnung zwischen hedonistischem Nachtleben und eisern durchtrainierter Hochkultur machte neugierig auf die weitere Zusammenarbeit. Leider kann „Egopoint“ diese Erwartungen nicht vollkommen einlösen. Zwar entwirft die Choreografin einen Bilderreigen, der ähnlich virtuos zwischen den Stimmungen wechselt wie die Klanglandschaften von Luke Slater, doch entwickelt sich nur selten mehr als ein illustratives Zwischenspiel zwischen den Medien Musik und Bewegung. Dramaturgisch zusammengehalten wird die lose Szenenfolge durch die eingangs erwähnte Dreiecksskulptur von Bühnen- und Kostümbildnerin Lena Lukjanova. Das raumgreifende Gebilde, das den Tänzern als Tanzstange, Go Go-Käfig, Waffe und Fluggerät dient, schwingt gegen Ende des Abends an einem Stahlseil durch den Raum und entfaltet tänzerische Eigendynamik, bis es sich - wie der zurückgezogene Finger eines warnenden Gottes - rot angeleuchtet in den Bühnenhimmel entfernt.

Symbolisch aufgeladen durch stimmungsvolle Beleuchtung und immer wieder auch durch mystisch überhöhte Sphärenklänge von DJ Slater wirkt das Dreieckssymbol wie eine Reminiszenz an den schwarzen Obelisken aus Stanley Kubricks „2001“, der der Menschheit nicht nur die Zivilisation sondern auch Zwietracht und Gewalt brachte. Und in der Tat scheint Lukjanovas Dreieck gleichzeitig Motivation zur tänzerischen Verausgabung und zum Streit zu sein. Immer wieder kämpfen Paare im Inneren des Gebildes gegeneinander, wetteifern muskulöse Männer darum, wer länger an seinem Gestänge umher schwingen kann. Fast wirkt es wie eine Metapher für den harten Alltag des klassischen Tänzers, der von eisernem Wettbewerb und dem Kampf gegen den eigenen Körper geprägt ist. Natürlich kann Saidakova als Choreografin noch lange nicht mit einer etablierten Berliner Größe wie Sasha Waltz mithalten. Dafür steht ihre Bewegungssprache noch zu sehr am Anfang - und ist im Übrigen noch allzu stark von den Konventionen der Ballettbühne geprägt. Zwar verzerrt und verbiegt sie die klassische Form, injiziert ihr Elemente aus Streetdance oder Hip Hop, und lässt die Tänzer statt balletthafter Leichtigkeit den Sexappeal hart arbeitender Go Gos verströmen. Doch bleiben die Gruppenarrangements aus wechselnden Pas de Deux, Pas de Trois und Ensembleszenen weitgehend konventionell. Dennoch ist hinter der manchmal ins leicht Kitschige kippenden Ästhetik und der Ausstellung der Virtuosität der Tänzer ein Impuls spürbar, der Größeres und Originelleres verspricht. Immer wieder scheinen die Interpreten plötzlich von der Musik hingerissen zu sein und extatisch nur für sich selbst zu tanzen. Diese Hingabe an das Animalische, das unkontrollierbare Abdriften passt nicht nur wunderbar zu den berauschenden Elektronikklängen Slaters – sie macht vor allem neugierig auf weitere, weniger brave Schöpfungen von Nadja Saidakova.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern