Gegensätze, die einander abstoßen

Thomas Hauert, Jiří Kylián und Heinz Spoerli in der jüngsten Zürcher Ballettpremiere

oe
Zürich, 30/10/2010

Man sagt ja immer: Gegensätze ziehen sich an. In der zweiten Zürcher Ballettpremiere der Spielzeit, der vorletzten Saison der „Ära Spoerli“, beweist Zürichs Ballettchef das Gegenteil. Im dreigeteilten Programm der Ballette von Thomas Hauert, Jiří Kylián und Spoerli, kontrastiert ein veritabler Flop mit zwei Meisterwerken.

In den siebzehn Jahren seines Zürcher Wirkens hat Spoerli bisher – wenn ich mich recht erinnere – ein einziges Mal einen Schweizer Juniorchoreografen präsentiert, Philipp Egli, der danach eine Randkarriere absolviert hat, den aber heute außer St. Gallen kaum noch jemand kennt. Und nun also, kurz vor Schluss, nochmals die Uraufführung eines Schweizers: Thomas Hauert, im Programmheft gerühmt als ein Modern-Dance-Mann mit eigener Kompanie, ZOO, der für zweimal sechs Tänzer „Il giornale della necropolo“ zu Salvatore Sciarrinos gleichnamiger Komposition für Akkordeon und Orchester choreografiert hat, vor den im Hintergrund vorüberziehenden Projektionen des belgischen Künstlers Michael Borremans. Hauert hält sich viel zugute auf sein Prinzip, das die Improvisationen der Tänzer in eine vorgegebene Struktur einbezieht. Offensichtlich haben ihn die prinzipiell klassisch motivierten Zürcher Tänzer, in unvorteilhafte, schlechtsitzende Pyjamas gekleidet, wenig Eigenes anzubieten gehabt. Infolgedessen schleppen sich die circa zwanzig Minuten der ständig in Reihenformationen aufmarschierenden Tänzer mit ihren Body-Exercises entsprechend dem Friedhof-Bezug des Titels wie eine endlose Begräbnis-Zeremonie der Choreografie hin.

Das banalste Ballett der Ära Spoerli überhaupt – ein Total-Flop, den er wettmachen sollte, indem er für seine letzte Zürcher Spielzeit den einzigen Schweizer Choreograf einlädt, der aus seinem (Basler) Ensemble hervorgegangen ist und der der erste Empfänger des von seiner Stiftung verliehenen Kunstpreises war: den heutigen Direktor des Düsseldorf-Duisburger Rhein-Balletts, Martin Schläpfer! Aus dem Souterrain der Choreografie in deren Bel Etage: Jiří Kyliáns „Falling Angels“, kreiert 1989 für das Nederlands Dans Theater zu Steve Reichs „Drumming“, mit geradezu exorzistischer Force von vier Bongo-Trommlern beschworen. Ein Meisterstreich für acht Tänzerinnen, darunter so prominente Zürcher Solistinnen wie Juliette Brunner, Viktorina Kapitonova und Galina Mihaylova. Sie sehen in ihren schnittigen schwarzen Badeanzügen mit den nackt belassenen Armen und Beinen (Kostüme: Joke Visser), pointiert beleuchtet von Joop Caboort, wie bildschöne Amazonen aus dem Trainingscamp von Penthesilea aus. Derart geballte Frauen-Power sieht man selten. Kylián spricht von einer „Art unbeschwerten Hommage an weibliche Tänzer“.

Aber diese Unbeschwertheit kann ich ihm nicht abnehmen – dafür sind die ausgefuchsten Aggressionen viel zu verbissen und brutal, geradezu gnadenlos, nichts beschönigend (einstudiert von Roslyn Anderson). Meine wieder einmal Amok laufende Fantasie sah in diesen „Fallenden Engeln“ etwas ganz Anderes. Nämlich emanzipierte Schweizer Bürgertöchter, die sich von ihren gutbürgerlichen Familien gelöst und einer weiblichen Terroristinnen-Gruppe angeschlossen haben, einem Feministen-Arm von Al Quaida sozusagen. Auch wenn das heute unvorstellbar bei dem unverhohlen machistischen Dünkel der Taliban klingt. Aber warum sollte es nicht in Zukunft ein feministisches Gegenstück dazu geben? Vielleicht ist dieser Kylián ja so etwas wie eine Vorwegnahme der Utopie einer weiblichen Terroristengruppe? Dann könnte dieses Ballett so etwas wie ein Trainingscamp für eine Elite-Einheit der Taliban sein. Mit Jiří Kylián als Guru!

Und dann also der absolute Knüller des Programms: die Neueinstudierung von Spoerlis „Sacre du printemps“, Jahrgang 2001 – inzwischen von einer neuen Tänzer-Generation getanzt, mit Sarah-Jane Brodbeck an der Spitze und den drei Schamanen Vahe Martirosyan, Nora Dürig und Arsen Mehrabyan sowie dem kompletten Zürcher Ballett, inklusive der Junioren: eine geballte Force de frappe, die mit ganz und gar nicht Schweizer Reserviertheit über die Bühne fegt: Ausbruch einer Elementargewalt wie eine Naturkatastrophe. Tatsächlich hat diese Choreografie etwas Urzeitliches, in der den Männern und Frauen noch nicht ihre spezifischen Geschlechterrollen zugewiesen waren – ein atavistisch-kannibalistisches Ritual und als solches der perfekte Gegenentwurf zu Kyliáns futuristischer Zukunfts-Bedrohung. So wurde der so läppisch gestartete neue Zürcher Ballettabend durch die beiden Beiträge von Kylián und Spoerli doch noch zu einer Manifestation dessen, wozu Ballett heute, am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts fähig ist, inspiriert von der musikalischen Zündkraft – nicht unbedingt Sciarrinos – Reichs und Strawinskys, die Zsolt Hamar auch diesmal wieder mit beschwörenden Gesten aus den Musikern des Orchesters der Oper Zürich herausmodellierte.

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