So viel Rüsche war nie

Kent Nagano dirigiert einen Ravel-Abend beim Bayerischen Staatsballett

München, 22/11/2010

Nur selten begibt sich der Generalmusikdirektor eines großen Opernhauses in die Niederungen der angewandten Ballettmusik – zuletzt war es Daniel Barenboim in Berlin, der Tschaikowskys „Schwanensee“ dirigierte und prompt in der Presse lesen musste, er hetze das Federvieh über die Bühne. Jetzt betreute Kent Nagano, der in zwei Jahren scheidende Chefdirigent der Münchner Oper, beim Bayerischen Staatsballett ein reines Ravel-Programm und entriss mit seinen zarten, glühenden, feinstens differenzierten Orchesterfarben den zwei choreografischen Uraufführungen einiges an Aufmerksamkeit. 

Unter dem Titel „Wohin er auch blickt ...“ sinniert Jörg Mannes, seines Zeichens Ballettchef in Hannover, über Einsamkeit und Verlust. Das zentrale Werk, Ravels Klavierkonzert für die linke Hand, wird von „Une barque sur l’océan“ und der kurzen „Pavane pour une infante défunte“ umrahmt. Mit frei im Raum schwebenden, Lichtstrahler-bewehrten Gitterstrukturen erinnert Tina Kitzings Bühnenbild stark an Rosalies Stil, es eröffnet durch seine monumentalen Strukturen einen weiten, dunklen Imaginationsraum, in dem Ravels Impressionismus in aller herben Schönheit aufblühen kann. Ständig sind die Gitter in Bewegung, ihr Licht fällt in spitzen Strahlen wie aus einem Nagelbrett, als warme Fläche oder gleißend hell, sie bilden Wände oder drücken einen Tänzer zu Boden. Es gibt ein zentrales Paar, Tigran Mikayelyan ist der suchende Held des ersten Teiles und Daria Sukhorukova die Einsame am Schluss. 

Choreografisch bleibt alles in einem ungewissen Fluss, die Tänzer wehen in wechselnden Trupps, vor allem aber einzeln über die Bühne, in einfachen schwarzen Hosen und Kleidern. Die klassische Aufteilung, den Solisten zum Soloinstrument und das Corps zum Orchester tanzen zu lassen, verfolgt Mannes im Klavierkonzert nur eine Weile, später deutet er mit Hilfe der Lichtquadrate eine Art Fight-Club an (zur einzigen jazzigen Anspielung in Ravels Musik), einen Leichenzug und klagende Frauen, alles als ferne Erinnerung und nie konkret. Mannes‘ Stil fließt hier weicher, weniger akademisch-korrekt als in „Der Sturm“, seiner letzten Münchner Arbeit. 

Mag das dunkle Stück als choreografisches Werk allein nicht sehr beeindrucken, so doch als monumentale Gesamtkomposition aus Raum, Licht, Musik und Tänzern. Mannes bringt Ravel Respekt entgegen, er übersteigert die emotionale Musik nicht durch optische Überflutung. Münchens Hauschoreograf Terence Kohler dagegen setzt noch eins drauf, er kriecht in die Musik hinein und gibt sich so vollständig dem Flimmern und Flirren, dem Ranken und Erblühen hin, dass bei „Daphnis und Chloé“ eine Kitschorgie sondergleichen herauskommt. Schuld daran ist vor allem sein Ausstatter Jordi Roig, der die griechische Mythologie in Togas samt Ringelbärtchen steckt und sie hinter einem Rüschenvorhang auftreten lässt. Auf die Rückwand projizierte Impressionisten-Bilder fangen wie im Trickfilm an zu leben, die gemalte Brandung rauscht ans Ufer: Monet, wie er morpht und lebt. Als Krönung entschwebt ein gehörnter Gott (halb Faun, halb Caliban) einer Art Riesen-Nachttischlampe und sinkt in Superman-Haltung in die Arme dreier Nymphen, die Beleuchtung des pittoresken Griechenland-Idylls schummert ins Lilablassblaue. 

Gegenüber der ursprünglich von Michail Fokine bei den Ballets Russes erzählten Handlung hat Terence Kohler die Geschichte nur wenig verändert. Das Hirtenpaar Daphnis und Chloé muss sich diversen erotischen Verlockungen stellen, bevor es, bei Kohler aus der Kindheit erwacht, schließlich wieder zueinander findet. Choreografisch bleibt das zähe, einstündige Werk erschreckend mager, widerstands- und entwicklungslos reiht Kohler klassische Bewegungen aneinander, erzählt mit den hergebrachten Pantomimen. Unbesorgt um irgendeine eventuell einzuhaltende Stilebene mischt er flapsige Elemente wie eine Ohrfeige oder das Näschen-Aneinanderreiben der Protagonisten hinein, ja sogar Tauziehen wird da ungeschickt gemimt. Beim Wogen der Meereswellen rollt das Corps de ballet auf dem Boden hin und zurück, den Gewittersturm demonstriert es uns pantomimisch händereckend, wie man es wohl schon zu Petipas Zeiten gemacht hatte. 

Am Schluss ist man froh, wenn der Vorhang endlich wieder zierlich herunterrüscht. Großer, dankbarer Applaus für Nagano, äußerst spärliche Begeisterung für den jungen australischen Choreografen, der sich vielleicht doch mal zu einer dramaturgischen Beratung überreden lassen sollte. Absolut lohnend: das schöne Programmheft mit einer Aufstellung der verschiedenen „Daphnis und Chloé“-Versionen und mit vielen Abbildungen der Ballets Russes.

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