Präsentierteller der Perfektion mit expressionistischen Spitzen

„Nosferatu und Co“ - Leistungsschau der Münchner Ballettakademie, inszeniert von Kirill Melnikov

München, 26/03/2010

Kirill Melnikov hat sich an den Expressionismus gewagt. An den der Jahrhundertwende, die sich auszeichnet durch Verunsicherung, Verfall, Gesellschaftskrise. Die Kunst der Moderne ist dementsprechend existentiell: sei es beispielsweise Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, der von der menschlichen Orientierungslosigkeit in der Großstadt erzählt, oder auch Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“, der Schrei einer von Krieg und Schrecken gepeinigten Seele als individuelle Apokalypse. In diesem Klima ist Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ entstanden, sicherlich auch geprägt von der aufkommenden Psychoanalyse, geprägt von Bram Stokers „Dracula“, und inspiriert von dem Bericht eines Chronisten, wie 1838 die Pest in die Hafenstadt Wisbourg kam.

Aber gerade diese Vielschichtigkeit ist es, die Akademiepädagoge und Choreograf Kirill Melnikov an „Nosferatu“ fasziniert, so verrät das Programmheft. Natürlich muss jetzt ein Ballett, zumal ein Handlungsballett, fokussieren, auswählen aus den unterschiedlichen Bedeutungsebenen. Kirill Melnikov hat sich dabei ausgerechnet für die Handlungsoberfläche entschieden, die Dreiecksbeziehung zwischen den Protagonisten Nosferatu, Ellen und Hutter. Das allerdings mit einer entscheidenden Umdeutung. Bei Murnau opfert sich Ellen für ihren geliebten Hutter und für die gesamte Stadt auf, indem sie sich dem Draculaverschnitt Nosferatu hingibt. Sonst, so glaubt sie, überzieht Nosferatu alle mit dem Tod. Bei Melnikov aber fängt die Protagonistin aus reiner Liebelei eine Affäre mit „Nos“ an. Eine Frau zerrissen zwischen zwei Männern, von denen sie sich angezogen fühlt, umgeben von fantastischen Figuren, die ihre hübschen Reigen tanzen und das flatternde Herz der Protagonistin kommentieren. Und damit endet Melnikov – trotz der existentiellen Steilvorlage Murnaus – bei dem üblichen Handlungsballettallerlei voller Herzschmerz, Putzigkeit und versöhnlicher Mystik.

Den Expressionismus tanzen – darunter stellt sich der Zuschauer wohl eher Versuche vor, wie sie um die Jahrhundertwende tatsächlich schon stattgefunden haben: zum Beispiel im deutschen Ausdruckstanz. Das eigentlich choreografische Pendant zu Expressionisten wie Döblin, Munch oder eben Murnau. Weg von vorgegebenen choreografischen Formen, weg von konventionalisierter Körperästhetik hin zu einem individuellen Körperausdruck, der aus dem Inneren des Tänzers kommen sollte – die Gegenbewegung zum klassischen Ballett. Dass es also fast schon konzeptuell scheitern muss, die Ideen des Expressionismus mit einer von Waganowa geprägten Auffassung von Ballett umzusetzen, liegt so gesehen auf der Hand. Man muss Kirill Melnikov, dem ehemaligen ersten Solisten des Bayerischen Staatsballetts, allerdings zugute halten, dass er zumindest versucht hat, den Zuckerguss zu salzen, indem er offen lässt, ob Ellens Seitensprung tatsächlich stattfindet oder nur in ihrem Kopf. Aber das alleine reicht nicht aus, um mit den zahlreichen Brüchen und Bedeutungsebenen mitzuhalten, die Murnau in seinen Film einbaut. Und wenn nicht in Melnikovs „Nosferatu“-Ballett zwanzig Minuten Murnau-Film integriert wären – bei insgesamt sechzig Minuten Aufführung –, wäre die expressionistische Diskrepanz auch gar nicht erst so ausführlich erwähnenswert. Aber die Gleichzeitigkeit der Gegensätze Melnikov und Murnau wirft das Publikum beständig von einer Sphäre in die andere – von der Oberfläche wird man in die Tiefe getunkt und dann wieder nach oben gespuckt. Das ist schade, denn dieser unsanfte dramaturgische Rahmen ist ein beständiges Störgeräusch hinter den Leistungen der Tänzer.

Und um sie sollte es an diesem Abend ja eigentlich hauptsächlich gehen. Die Münchner Hochschule für Musik und Theater wollte einmal auch ihren Ballettstudenten eine Bühne geben, und das nicht nur der Meisterklasse, sondern auch den jungen Semestern. Dieses Zusammenspiel der unterschiedlichen Leistungsniveaus hat sehr gut funktioniert. Melnikov hat es verstanden, den Schülern gerecht zu werden, sie so mit Rollen zu bedenken und diese so zu kombinieren, dass der Abend als harmonisches Ganzes erscheint. Überhaupt ist Melnikov ein Meister der Harmonien, wie sich vor allem im ersten Teil des Ballettabends zeigt, in dem die Ballettstudenten verschiedene kürzere Stücke aufführen. Dabei kombiniert der Choreograf symmetrische Ensemblefiguren mit frechen Ideen. So baut er in „Ein kleines Nacht-Ballett“ Stellwände auf, hinter denen Tänzer verborgen sind. Sie heben und schwenken Tänzerinnen, die dann immer wieder auf humorvolle Art und Weise auf- und abtauchen. Die Schüler sind teilweise sehr jung, im frühen Teenageralter oder sogar noch jünger. Keiner patzte, jeder zeigte auf seinem Level extrem gute Leistungen, die Disziplin und Reife der Schüler ist großartig. Aber manchmal wäre es fast schöner, die Tänzer wären weniger Präsentierteller der Perfektion als vielmehr wirbelnde Leidenschaft mit dem Mut, die durchdringende Körperbeherrschung auch mal partiell zugunsten des Körperausdrucks aufzugeben.

In den „Mazedonischen Tänzen“ deutet sich ein Aufbruch dahingehend an. Melnikov lässt die Tänzer verwegen mit Hüfttuch auftreten, versucht mit ihnen freiere Körperformen, die aber immer noch stark von der klassischen Ballettschule ins Korsett gezwängt sind. Aber Rhythmik und wilder Gesichtsausdruck der Tänzer deuten den Willen zum Bruch mit dem streng Klassischen an. Tänzerisch anspruchsvoll, unerhört präzise und ausdrucksstark waren die zwei Pas de deux des ersten Teils, von der Form her eine deutliche Stärke von Melnikov. In „Galatea“ tanzen Eliza Mestres aus dem ersten Semester und Kirill Kornilov aus dem fünften Semester auf ein reines Percussionstück eine technisch schwierige, optisch originelle Variante des Puppenspielerthemas in Schwarz-Rosa, das Melnikov an diesem Abend öfter einsetzt: Die Dame, eine menschliche Puppe, mit geometrischen, präzisen Bewegungen, die sich immer mehr emanzipiert und sogar ansatzweise emotional wird.

Das schwierigste und tatsächlich expressionistischste Stück des Abends tanzten Malina Fettkenheuer aus dem 2. Semester und Robert Bruist aus dem 7. In körperfarbenen, eng anliegenden Kostümen winden sich die beiden Tänzer gegeneinander, miteinander als Adam und Eva. Keine klassisch-süße Paradiesszene, sondern ein Tanz, der ins Akrobatisch-Moderne reicht, der Verzweiflung und Schöpfungskampf, Überlebenswille und Gestaltungskraft zeigt. Und das mit beeindruckenden Hebungen. So liegt beispielsweise Malina Fettkenheuer in der Skorpionhaltung auf den gekrümmten Schulterblättern ihres stehenden Partners, die Arme bei beiden frei in Bewegung. Beeindruckend. Dieser Stil hätte dem großen zweiten Teil des Abends, dem „Nosferatu“, gut gestanden. Mit der Weichheit und den wunderschönen Armen Laura Schmids als Ellen alias Fera und vor allem mit dem kraftvollen und präsenten Sergi Nicolau als Nos hätte Melnikov genug expressionistisches Tänzer-Potenzial gehabt.

Letzte Vorstellung: Samstag, 27.3.2010, 19 Uhr, Reaktorhalle in der Luisenstraße 37a

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