Das Schicksal mit dem Rasiermesser

Roland Petit im Pariser Palais Garnier

Paris, 25/09/2010

Roland Petit kannte viele bedeutende Künstler seiner Zeit und hat aus diesen Bekanntschaften mehr als einmal Nutzen für seine Kunst gezogen. Von Pablo Picasso bis Yves Saint Laurent, von Henri Dutilleux bis Orson Welles – der 86-jährige kann heute auf Zusammenarbeit mit Künstlern verschiedenster Sparten zurückblicken. Eine wichtige Rolle in seinem Werk spielen auch die Schriftsteller, was ihm in der französischen Ballettlandschaft des 20. Jahrhunderts eine besondere Stellung verleiht. Tatsächlich hat sich kein anderer Choreograf in Frankreich so anhaltend mit der Weltliteratur auseinandergesetzt wie Roland Petit. Er ließ Goethe ebenso vertanzen wie Hugo, Daudet, Hoffmann, Merimée oder Rostand, und selbst Prousts siebenbändige „Recherche du temps perdu“ hat er in ein nicht einmal zweistündiges Ballett gepackt. Einige bekannte Schriftsteller wie Jean Cocteau, Boris Kochno, Jean Anouilh und Jacques Prévert haben eigens Libretti für seine Ballette entworfen. Drei dieser Stücke war der Abend gewidmet, der diese Spielzeit des Balletts der Pariser Oper eröffnete.

Die drei Werke aus den 1940er und frühen 1950er Jahren eint die irreale, von Symbolen und Allegorien durchzogene Atmosphäre sowie das tödliche Ende für die Protagonisten, ganz nach dem Petitschen Diktum „J’aime faire mourir mes héros!“. „Le jeune homme et la mort“, ein häufig in Paris gezeigtes Werk, schloss sich an die beiden weniger bekannten Ballette „Le rendez-vous“ und „Le loup“ an, wohl als Ausgleich des mit den ersten Stücken eingegangenen künstlerischen Risikos.

Tatsächlich mag die symbolistische Handlung von „Le rendez-vous“ (Bühnenbild Brassai, Vorhang Pablo Picasso, Kostüme Mayo, Originalmusik von Joseph Kosma) dem modernen Betrachter befremdlich anmuten – ein junger Mann, dem ein Bettler den Tod noch am selben Tag prophezeit hat, trifft einen fröhlichen Buckligen, tanzt mit ihm, das Schicksal steckt ihm ein Rasiermesser zu, mit dem ihm eine mysteriöse, ihn spinnengleich umwebende Schöne den Hals durchschneidet. Diese phantastische Handlung entfaltet sich nicht vor einem gemalten Bühnenbild, sondern vor einigen vergrößerten Photos von Paris, die an zeitgenössische Filme erinnern. Wie auch in „Le loup“ – und natürlich mit größter Effektivität in „Notre-Dame de Paris“ –, schuf Petit hier einige gelungene Pas de Deux zwischen dem schönen, gesunden Menschen und der Kreatur. Michael Denard ist ein sehr charismatisches Schicksal, doch bleibt der tangoartige Schluss-Pas de Deux weit hinter dem in der Atmosphäre ähnlichen Pas de Deux in „Jeune homme et la mort“ zurück. Dafür bietet das Stück dem unnachahmlichen Petit-Interpreten Nicolas Le Riche die Gelegenheit, seine tänzerischen und darstellerischen Fähigkeiten eindrucksvoll zu entfalten.

„Le loup“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einen Wolf verliebt und dem von der Gesellschaft zu Tode gehetzten Wesen in die Vernichtung folgt. Henri Dutilleux äußerst effektvolle Musik, die in enger Zusammenarbeit mit dem Choreografen entstanden ist, schafft dabei ebenso eine expressionistische Atmosphäre wie die aggressiv-bunten Kostüme des Volkes und dessen abgehackte oder pulsierende Bewegungen. Emilie Cozette und Stéphane Bullion in den Hauptrollen zeigten hier unerwartete dramatische Qualitäten vor allem in den Schlussszenen. Bewegend ist auch der Pas de Deux, in dem die junge Frau nach und nach die Identität ihres Geliebten entdeckt, den sie für ihren verkleideten Verlobten hält. Doch liegt der besondere Reiz des Stückes in der kraftvollen, tierisch-ungezähmten Bewegungssprache, die Petit für seinen Wolf erfand und die sich Stéphane Bullion sehr geschickt zu eigen machte.

Das zeitloseste und packendste Stück des Abends war jedoch „Le jeune homme et la mort“. Die Geschichte des zu Jazzrhythmen probenden Jean Babilée, dem im letzten Moment Bachs „Passacaille“ als Musik „untergeschoben“ wurde, ist heute allseits bekannt, und niemand wundert sich mehr über die gelungene zufällige Synchronisation von Musik und Handlung. Das besonders sperrige Dekor – Tisch, Stühle, Bett, ein Stützpfeiler inmitten des Zimmers (Georges Wakhévitch, Kostüme nach Karinska) – wird immer wieder in die Choreografie mit einbezogen, übersprungen und über die Bühne geschleudert im heftigen Kampf des jungen „artiste damné“ mit sich selbst und seiner grausamen Geliebten. In dieser Rolle gab die eisig-berechnende, sich schlangengleich windende Alice Renavand ein faszinierendes Rollendebüt. Jérémie Bélingard als junger Mann ist vom Öffnen des Vorhangs, bei dem er kopfunter und rauchend auf seinem Bettgestell hängt, bis zur Schlussszene, in der er mit der als Tod demaskierten Geliebten nach seinem Selbstmord über die beeindruckende Kulisse der Dächer von Paris wandelt, ein Bild der zum Äußersten bereiten Verzweiflung.

Zusätzlich geehrt durch das jährliche Défilé des Corps de Ballet zu Beginn der Vorstellung, kam Petit schließlich selbst auf die Bühne. Herzlich umarmte er einige seiner Lieblingsinterpreten, vor allem die blonde Sizilianerin Eleonora Abbagnato, die nach einem Sabbatjahr an diesem Abend in einem als Bonus eingefügten, lyrisch-ausdrucksvollen Pas de Deux aus „Proust ou les intermittences du coeur“ an die Pariser Oper zurückgekehrt war. Daraufhin sonnte er sich fröhlich tänzelnd im Publikumsjubel. Dieser galt dem Meister der leidenschaftlichen Pas de Deux und der höchsten Theatralik, die hier in einigen originellen Varianten zu sehen waren.


Besuchte Vorstellung: 24. September 2010 Vorstellungen bis 9. Oktober 2010 
www.operadeparis.fr

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