Bollywood läßt grüßen

„Carmen/Boléro“ von Ben van Cauwenbergh

Essen, 14/02/2011

Mittlerweile kennt auch hierzulande jeder die schnulzigen Liebesfilme aus Bollywood, in denen die sexy Diva im farbenprächtigen Sari den Beau im Kornfeld mit Tänzen verführt. Im Hintergrund mimt ein Bewegungschor das Liebeswerben rhythmisch mit. An das künstliche Kunstgewerbe solcher Szenen erinnert manches in Ben van Cauwenberghs „Carmen/Boléro“. Mit der Schreibweise des Titels im Muster des modischen „und/oder“ bietet er dem Publikum gleich eine Alternative an – so als wollte er sagen: entweder du liebst meine „Carmen“ oder meinen „Boléro“ – oder auch beide.

Das Essener Premierenpublikum entschied sich eindeutig für den „Boléro“. In ihm schenkt Cauwenbergh Carmen ein zweites Leben. Nicht mit der Ermordung der liebestollen Zigeunerin durch den eifersüchtigen Don José endet der Abend im Aalto-Theater, sondern mit ihrer Auferstehung auf Ravels „Boléro“. Den phänomenalen Effekt der finalen Dissonanzen des 16-minütigen motorischen Crescendos unterstreicht das Schlussbild: Von der scharf in die Schräge gekippten Schwebebühne, auf der die Carmen-Protagonisten wie mumifizierte Terracotta-Figuren vorher tanzten, rutschen alle ab – bis auf Carmen. Sie bleibt im blutroten Ambiente, umgeben von einem Feuerwerk aus weiß-glitzernd perlenden Tropfen, malerisch hingestreckt liegen. Der Jubel vieler Zuschauer glich einem Befreiungsaufschrei.

Denn der erste Teil konnte weniger überzeugen. Die Glut Carmens wird zur Show à la Bollywood verfremdet: ein das Corps als Bewegungschor düster gewandeter Gestalten begleitet Adeline Pastors laszive Avancen, die in den Duetten mit Don José (Marat Ourtaev), Escamillo (Armen Hakobyan) und Zuniga (Nour Eldesouki) in manierierte Akrobatik ausarten. Carmens Tod beklagen im Zwischenspiel ihre drei Freundinnen zu einem Flamenco-Gesang. Die Errettung (aus der Hölle?) wird mit wallenden schwarzen Planen und dramatischem Bühnenqualm auf den 2. Teil von Wolfgang Rihms Orchesterwerk „Das Lesen der Schrift“ zelebriert. Die Collage aus Carmen-Musiken von Bizet, wie Rihm vorzüglich gespielt von den Essener Philharmonikern unter Volker Perplies, irritiert, weil musikalische Motive und Melodien oftmals nicht dem Verlauf der Geschichte entsprechen. Die Rolle des Kneipenwirts Lillas Pastia erweitert Cauwenbergh zum dienstbaren Geist Escamillos. Das ist durchaus nachvollziehbar, zeigt sich doch der junge Japaner Wataru Shimizu tänzerisch (nicht zum ersten Mal!) als technisch versierter, quirliger Wirbelwind. Als Carmens (und Pastors) ebenbürtige Konkurrentin erweist sich Yulia Tsoi, Josés Verlobte Micaela - wie er ganz in weiß und hochelegant - und keineswegs Prosper Mérimées scheues Mädchen vom Lande, sondern eine wunderbare, leidende Charakterdarstellerin. Unbestrittener Star ist jedoch (wieder) Bühnenbildner Dmitrij Simkin, der den Ballettabend mit raffinierten Spiegelungen und Projektionen zu einer optisch rasanten Show stilisiert.

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