Bongo-Bongo im Ballettmuseum

Das Königliche Ballett von Flandern mit „Impressing the Czar“

Stuttgart, 21/02/2011

Unter all den Choreografen, die das Stuttgarter Ballett in die Welt hinausgeschickt hat, war er sicher der Radikalste und der Visionärste – derjenige, der statt um eine Ecke der Tanzgeschichte gleich um den ganzen Block ging, um es mit den Worten des Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson zu sagen. Noch immer überrascht und befremdet William Forsythe sein Publikum, ist nie stehen geblieben bei einem Stil oder gar einer Masche, denkt unbeirrbar weiter und voraus, ob wir Zuschauer ihm nun folgen oder nicht. Als letztes der drei großen Gastspiele der Jubiläumsfestwochen beim Stuttgarter Ballett fegte am Wochenende einer seiner Klassiker, das Stück mit den goldenen Kirschen, über die Bühne des Opernhauses: „Impressing the Czar“, ein rasanter, knallbunter und völlig surrealer Dreiteiler aus dem Jahr 1988, dessen Mittelstück „In the middle, somewhat elevated“ als eines der besten Beispiele von Forsythes neuem Ballettstil der gliederwerfenden Attacke gilt. Eine ganze Generation von Choreografen hat er damit beeinflusst, die 80er und 90er Jahre waren geprägt von seinem abstrakten, scharfkantigen Spitzentanz, von weit hinaufgeworfenen Beinen, schnellen und harten Pirouetten, frech vorgekippten Hüften, von dieser freien, wilden, schönen Geometrie der Körper.

Forsythes eigene Kompanie ist längst weitergezogen und windet sich heute hermetisch in Kontorsionen, deshalb gehört das Stück nun exklusiv dem Königlichen Ballett von Flandern aus Antwerpen. Seine rührige Direktorin Kathryn Bennetts war nach ihrer Stuttgarter Ballerinenzeit lange Jahre Forsythes Ballettmeisterin in Frankfurt, sie sorgt für den perfekten Stil der großartigen, dynamischen Kompanie. Alles fängt im Chaos an: der erste Teil des Abends ist ein absurdes Drama in historischen Kostümen verschiedenster Zeiten, das neben vielen verschossenen Pfeilen einen Dreizack involviert, einen Fernseher und einen Wandbehang, eine große schwarze Raute, einen Raubvogel, die Venus von Milo, viele spitze Hütchen (hallo, Christian Spuck!), Kirschen und furchtbar viel Klebeband.

Zu einem knallhart hereinplatzenden Soundtrack, in dem ab und an Beethoven erkennbar ist, entfaltet sich mit absurdem Slapstick und überdrehten Pantomimen ein wilder Tumult im Zeitraffer, observiert und kommentiert von der patenten Agnes – die herrlich vorlaute Helen Pickett gibt die forsche Forscherin in Faltenrock und weißem Blüschen. In ihrer mehrfach potenzierten Absurdität wirkt die Klassiker-Parodie wie ein Amoklauf im Antikenmuseum des Balletts (damals, als Petipa in St. Petersburg noch versuchte, den Zar zu beeindrucken), oder besser: der gesamten Kunstgeschichte. Sie endet mit dem Abheben der Kirschen gen Himmel und dem zukunftsweisenden Ausruf „We have lift off!“.

Die Klassik, die Forsythe im ersten Teil im Zeitraffer über die Bühne gejagt hat, hängt im zweiten Teil, zusammengefasst als ein Paar ominöser goldener Kirschen, dann winzig klein über der völlig leeren Bühne, einer der Tänzer grüßt lässig hinauf. Das also bleibt übrig, wenn man alles Dekor und alle künstliche Zier weglässt: die paar reinen, sauberen Grundbewegungen, skelettiert, isoliert und vor allem turbobeschleunigt. Jetzt arbeitet dafür der elektronische Soundtrack des damaligen Frankfurter Hauskomponisten Thom Willems an einer neuen Art von Überwältigungsstrategie, mit seiner Lautstärke und dem lasziv synkopierten Grundschlag, der gewissermaßen musikalisch zur Attacke zwingt.

Manchmal kristallisiert sich der Tanz der neun Solisten in kleinen Strukturen – Duos, Grüppchen, eine vertikale Linien, eine Diagonale - aber alles kurz, spontan und zufällig. Wichtig ist allein die pure, abstrakte, schnelle Bewegung. Bei der kurzen Jubiläumsauktion des dritten Teils versteigert Agnes dann allerhand Schräges, die in Gold verpackten menschlichen Reste des ersten Teils, und bringt in ihrer plappernden Suada Anspielungen auf den neuen Bahnhof, auf Dr. (oder Herr?) Guttenberg und die Cranko-Schule unter.

Sicher würden wir uns fragen, was das Ganze eigentlich alles soll: eine Metapher? Ein Modetrend? Ein merkwürdiges Ritual? Natürlich bekommen wir keine Antwort, stattdessen lässt Forsythe Bongo-Bongo tanzen: an die vierzig Schulmädchen, weibliche und männliche, hüpfen in Rock und Kniestrümpfen, mit Pagenschnitt und Rhythmus im Leib wie ein Stamm wilder Punker im Kreis, schwofen vor sich hin beim schrillen Totentanz für den per Pfeil erlegten Mr. P-nut, Nijinsky-Faun im neckischen Röckchen, vorlauter Kopf bei der Auktion und inzwischen toter Renaissance-Musealer. Natürlich steht er wieder auf und holt eine Kindertröte heraus. Selten so viel Spaß gehabt beim modernen Ballett!

www.koninklijkballetvanvlaanderen.be

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