„Chout“ von Virginia Heinen.

„Chout“ von Virginia Heinen.

Fremdkörper im Lackmantel

”Trilogie russe” beim Ballet de l’Opéra national du Rhin

Straßburg, 04/06/2011

Erstaunlich, dass selbst nach Jahrzehnten der deutsch-französischen Freundschaft die Grenzziehung zwischen beiden Völkern spürbar ist. Eigentlich ist es ein Katzensprung von Freiburg nach Mulhouse oder von Karlsruhe nach Straßburg und umgekehrt – und trotzdem hat man den Eindruck, als ob der Rheingraben nach wie vor das kulturelle Geschehen trennt.

Virginia Heinen zum Beispiel, Choreografin aus Dortmund. 2002 hat sie gemeinsam mit Enrico Tedde im Elsass die Compagnie Blicke gegründet, ohne dass davon in ihrer Heimat groß Notiz genommen worden wäre. Dabei kann die ehemalige Folkwang-Absolventin eine Karriere vorweisen, die nicht von schlechten Eltern ist. So tanzte sie bei Pina Bausch, Susanne Linke und Felix Ruckert, bevor sie von Blanca Li unter Vertrag genommen wurde. Stückweise arbeitete mit Marilèn Breucker, Luc Petton, Laura Simi und Damiano Foà, Laura Scozzi und Renate Pook zusammen – und schuf, von unseren Nachbarn als Pädagogin in der Nachfolge ihres Lehrers Jean Cébron hoch geschätzt, mittlerweile mit „Entre deux“, „Passi“, „Fragile“, „Memoria“ sowie mehreren Soli eine stattliche Reihe von Werken, die ihr in Frankreich Anerkennung eintrugen – nicht aber ein einziges Gastspiel in Deutschland.

Dass ihr Bertrand d’At im Rahmen einer „Trilogie russe“ des Ballet de l’Opéra national du rhin einen „Chout“ zutraut, kann jedenfalls kein Zufall sein. Virginia Heiden macht sich denn auch mutig an ein Stück, dessen Storyline immer Choreografen abgeschreckt hat – einer Musik zum Trotz, die zu den inspiriertesten, farbigsten, frechsten von Sergej Prokofjew gehört. Virginia Heinen lässt das Libretto Libretto sein und macht sich einen eigenen Reim auf die Narren-Geschichte, die zumindest in Ansätzen zu erahnen ist. Zu sehen ist ein Stück voller Situationskomik, in dem Myrina Bronthomme wie ein Fremdkörper wirkt: rothaarig, im pinkfarbenen Lackmantel, goldenem Body und Stiletto-Schuhen. Wie eine Außenseiterin scheint sie die absurden Aktionen der anderen zu beobachten, die zwischendurch in einer Todesszene kulminieren. Aber anders als im Original ist alles nur ein Spiel, und selbst wenn am Ende das Ensemble die Styropor-Wände von Bruno de Lavanère zum Einstürzen bringt, fällt das Stück nicht in sich zusammen. Aus den Trümmern tauchen vielmehr wieder die Tänzer auf, und sie sind es, die sich nach und nach einen gestalterischen Freiraum schaffen. Und den brauchen sie. Im „Chout“ von Virginia Heinen läuft zwar manches quer, und nicht jeder Einfall überzeugt. Aber dass sie choreografisch was auf dem Kasten hat, kann keiner bestreiten.

Und sie ist nicht ja nicht die einzige an diesem Abend, die sich für die „Trilogie russe“ was einfallen lässt. Michel Kelemenis beispielsweise, „concepteur“ eines neuen Tanzhauses, das im September in Marseille unter dem Namen KLAP eröffnet wird, steuert eine Neufassung von Strawinskys „Le Baiser de la fée“ bei. Und Garry Stewart offeriert unter dem Titel „SDP“ einen „Sacre du printemps“, den er aus dem vergangenen Jahrhundert in das unsrige holt. Inspiriert von der „Tutting“-Technik, die im Street Dance Verwendung findet, entwickelt er zunächst ein elektronisches Kaleidoskop, das auf eine riesige Projektionswand immer wieder Ornamente zaubert. Manchmal erinnert das an Szenen aus Crankos „Poème de l’extase“. Auch im „Play“ von Sidi Larbi Cherkaoui finden sich vergleichbare Passagen. Doch der Direktor des Australian Dance Theater begnügt sich nicht mit dem (im Ballett keineswegs verbotenen) Handspiel seiner Tänzer. Im weiteren Verlauf choreografiert er vielmehr die Beinbewegungen so vertrackt, dass man glauben könnte, er hätte sich bei La La La Human Steps was abgeschaut. Doch Garry Stewart ist nicht so verrückt, einfach einen Edouard Lock zu kopieren, sondern dekonstruiert seinen Strawinsky so, wie er das schon vor elf Jahren bei „Birdbrain“ mit „Schwanensee“ getan hat – auf dass „Le Sacre“ auf eine ganz heutige Weise wieder erfahrbar wird.

www.operanationaldurhin.eu

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